Sax
des Kompagnons war es geschehen. Aber für die Ruhe Marybels war Jacques’ Dachpraxis die viel härtere Prüfung. Der Sohn spendete sein Sakrament als Leib und Blut, seine umfassende Liebe blieb teilbar. Die ihre war es nicht. Aber der einzig Geliebte durfte ihr nicht sterben; darum mußte er sich selbst treuer bleiben dürfen als ihr. Marybel mußte am stärksten sein, wenn Jacques ordinär wurde: Was sich liebt, das fickt sich, aber was sich fickt, braucht sich noch lange nicht zu lieben. Solche Sprüche waren die Kehrseite seiner Empfindlichkeit; denn hätte er Marybel so verletzen müssen, wäre er nicht selbst so verletzlich gewesen?
Immerhin ersparte sie sich Herzeleid, wenn sie ihn auf Abstand hielt. Das wurde ihr durch die neue Raumzuteilung sehr erleichtert. Ihr Arbeitsplatz blieb nicht lange ein triviales Büro; sie sorgte dafür, daß die Aktenordner unsichtbar wurden. Man glaubte eine Bibliothek zu betreten. Wo die juristische Fachliteratur nicht hinreichte, waren die Regale mit Bildbänden gefüllt, die sie aus ihrer Wohnung mitgebracht hatte. Inzwischen war im Ikonensaal fast nur noch erotische Literatur zurückgeblieben.
Hermann Frischknecht, von Marybel «mein Riese» genannt, war ein begnadeter Tüftler und ein rechter Seelentrost. Die Umzüge im Haus hatten ihm Gelegenheit gegeben, nicht nur Leibeskraft und Feingefühl unter Beweis zu stellen. Zur Licht- und Tontechnik hinzu eignete er sich jetzt auch den Umgang mit Büromaschinen an. Die Früchte von Silicon Valley reiften auch für den Alltag immer schneller. Das Flicken von Fahrrädern war nur noch Hermanns Brotberuf, wie für Spinoza das Brillenschleifen oder für Einstein die Registratur von Patenten. Wenn er für seine Partei keine Flugblätter verteilte, hospitierte er in einem Institut für Verfahrenstechnik oder tingelte mit einer Geisterbahn, die er mit Lasereffekten konkurrenzlos gemacht hatte. Die Hausgenossen im «Eisernen Zeit» aber profitierten auf allen Ebenen von Hermanns Tüchtigkeit – Marybel auch auf der emotionalen, wobei sie vor Komplikationen sicher war. Denn die Gefühle ihres Riesen schienen restlos in technischen und politischen Passionen aufzugehen. Vielleicht war der Sohn seiner Mutter ein gebranntes Kind – aber zugleich ein linkes Kind des Hauses, und er stützte es mit seiner Stärke, während Peter Leu, der gesetzliche Besitzer, immer schwächer leuchtete wie ein abnehmender Mond.
Marybel hatte ihre ganz eigene Art gefunden, Jacques ihre Nähe zu zeigen, ohne ihm zu nahe zu treten. Sie bepflanzte die Dachmansarde. Den schwarzen Kubus hatte sie schon nach dem Einzugsfest zu begrünen angefangen. In große Zementkisten, die Hermann aufs Dach schleppte – und danach zahllose Säcke bester Gartenerde –, hatte sie Geißblatt gepflanzt, das die angebrachte Gitterwand bereits zu umschlingen begann. In ein, zwei Jahren mußte aus dem nackten Klotz ein grüner Hügel mit gelben und weißen Blüten werden. Sein Duft würde Jacques, wenn er aus seiner Dachwohnung trat, an Marybel erinnern, die ein Stockwerk tiefer an ihrem Schreibtisch saß. Dort stand, neben der DOS-Büromaschine, die sie mit Hermanns Hilfe bedienen lernte, auch das Bild eines Grabes auf dem Wiener «Friedhof der Namenlosen», dessen Inschrift ihr teuer war: «Unbekannt, doch unvergessen.»
Als Reinhold Dörig eines schönen Tages die neue Etage besuchte, mußte er den Eindruck gewinnen, er habe sie eigentlich für Marybel angemietet. Denn in ihrem Büro vereinigte sich alles, was er als unentbehrlich betrachtet hatte: Sekretariat, Empfangs- und Konferenzräume – auch das Zimmer des Chefs.
Es war der klirrend kalte Februar 1971. Die Wochenkonferenz fand in Marybels Büro statt, das jetzt auch über eine Sitzgruppe aus schwarzem Leder verfügte; sie hatte sie im Brockenhaus besorgt. Dörigs Haar war wieder etwas nachgewachsen, sein zerknittertes Gesicht wirkte fast durchsichtig, aber Haltung und Stimme waren ungebrochen.
Arbeitest du immer noch für Schinz? fragte er Moritz.
Im April schickt er mich nach New York, sagte Moritz. – Ich lerne Investmentbanking.
Ins Gehirn des Monstrums, sagte Dörig, solange du weißt, was du tust, Partisan. Und es ist wohl richtig, wenn du dich ein wenig aus der Schußlinie nimmst.
Welcher Schußlinie? fragte Jacques.
Das fragst
du
? Ich höre von Segeltörns mit der Frau deines Vaters – oder höre ich nicht recht?
Unsinn, sagte Jacques. In Marybels Gegenwart war ihm das Thema peinlich.
Unsinn, du sagst
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