Sax
Buchstaben gefüllt, ungleich groß und zittrig. Aber sie waren beliebig und ergaben keinen Sinn. Achermann nahm das Rätsel mit.
In der Cafeteria stellte er sich nicht in die Schlange. Er setzte sich an einen freien Platz und starrte ins Leere. Dann begann er das Rätsel zu lösen, aber beschränkte sich auf die Felder, die Reinhold leer gelassen hatte. An einem Punkt geriet er ins Stocken.
THETAN, sagte es über seinem Kopf.
Hinter ihm stand Jacques. «Das E-Meter zeigt an, ob er operiert». Hast du nie von einem «Operating Thetan» gehört? So einer kannst du werden, wenn du deine Seele der Scientology Church verschreibst. Sie ist wieder einmal in der Zeitung. Wie geht es Reinhold?
Entschuldige mich, sagte Hubert und rannte zur Toilette, doch der Brechreiz hatte getrogen. Am Brunnen rieb er kaltes Wasser in ein Gesicht, das er im Spiegel nicht kannte, doch wenn er grinste, verzog es gleichzeitig den Mund. Als er zurückkam, war Jacques über das Rätsel gebeugt. Er hatte die Unsinnslettern ausradiert und war im Begriff, die Kästchen fliegend auszufüllen.
Was tust du! Das hat Reinhold geschrieben. Vielleicht das letzte … Huberts Stimme erstickte.
Jacques steckte den Kugelschreiber ein. – Das tut mir leid. So leid.
Du wußtest es ja nicht, sagte Hubert. – Bitte, mach’s fertig.
Wir lösen es zusammen, sagte Jacques, Wasser in den Augen.
Als Achermann auf Reinholds Zimmer erschien, waren zwei Schwestern mit dem Abziehen seines Bettes beschäftigt.
Herr Dörig ist vor einer Viertelstunde verstorben.
Achermann machte einen langen Spaziergang durch den Wald hinter dem Zoo. Als ihm der Termin mit Sidonie einfiel, war er längst verpaßt. Das Telefon in der Frauen-WG wurde nicht abgenommen. Er sprach eine Entschuldigung auf den Anrufbeantworter.
Zwei Tage später fuhr er mit dem Lift in den Keller des Krankenhauses. In einem fensterlosen Räumchen bat man ihn, Platz zu nehmen. Auf dem Tisch stand ein Gesteck künstlicher blauer Primeln, auch das schrill grüne Topfgewächs in der Nische war aus Plastik. Endlich öffnete sich die Tür zu einem Hinterraum, durch den die Bahre herangerollt wurde. – Möchten Sie allein sein?
Kühle wehte ihm von dem knappen Totenbett entgegen. Drauf lag Reinhold, es konnte kein anderer sein. Doch das Leben hatte sich aus der gelblichen Maske verflüchtigt. Es überließ das Gesicht noch nicht dem Verfall, aber der Tod hatte es gegenständlich gemacht, wie es nie gewesen war.
Einmal hatte Achermann eine Fotoausstellung besucht, in einer deutschen Mittelstadt; das kleine Museum war auf Tod spezialisiert. Fotoporträts im Weltformat zeigten zweimal denselben Menschen,
vorher
und
nachher
, wie auf der Reklame eines Haarwuchsmittels. Vorher war das Gesicht unruhig, flackernd vor Leid oder Angst, die Züge verrutscht. Nachher: Unruhe geglättet, Falten ausgebügelt, das Gesicht gefestigt und erloschen zu stiller Heiterkeit. Der Tod wirkte kosmetisch. Jeder Tote ein Andachtsbild.
Der gewesene Mensch, der im Spitalkeller vor Achermann lag, glich den künstlichen Primeln im Wartezimmer.
Nein, sagte er, Reinhold, entschuldige: ich gehe. Über das, was ich da sehe, hättest du dich geärgert. An deiner Stelle liegt etwas von entfernter Ähnlichkeit. Es tut nicht einmal weh. Nur, daß du so allein gestorben bist, auf der verhaßten Intensivstation. Aber ich glaube, sie war weit weg. Nicht wahr? Sie war viel weiter weg als ich.
Achermann berührte das dünne Haar, die kalte Stirn. Wir haben uns schon auf der «Rahel» verabschiedet und wußten es nicht. Was bleibt: du fehlst, und von jetzt an fehlst du mir ganz und gar.
Darf ich dich zeichnen? Ich habe so was lange nicht mehr versucht.
Er packte Block und Bleistift aus der Tasche. Wie unsicher sein Strich geworden war. Doch vielleicht gelang es eben so, auf dem Papier eine Spur des Lebens festzuhalten, das er im Gesicht des Toten so schmerzhaft vermißte.
Marybel hatte mit der Belegschaft der «Hygeia» die Organisation der Beisetzung besorgt. Die «Bachtel», das gemietete Ausflugsschiff, war, dicht mit Menschen besetzt, in respektvollem Abstand von der «Rahel» bis zur Seemitte gefahren. Die Wächter der Urne hatte Marybel ausgewählt. Viele hatten den Einzug ins «Eiserne Zeit» mitgefeiert, Tövet spielte Gitarre, Lieder der Revolution, doch auf der «Rahel» sang man sie nicht mit; zu singen war dem großen Schiff bestimmt. Und als Jacques die Glocke des kleinen hatte schlagen lassen, erschallte sie auch auf der
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