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Sax

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Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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letzten Lebensjahren trigonometrisch vermessen half – während er am Hauptartikel «Meer» für Gehlers «Physikalisches Wörterbuch» arbeitete, von dem er leider nur einige wenige, bloß ihm selbst verständliche Notizen hinterließ? Auch der Sternhimmel hatte ihn nicht losgelassen; man konnte das Denkmal einer nicht nur verschwiegenen, sondern
versteckten
Sehnsucht mit Händen greifen. Bevor Horner ganz abbaute, wollte er nochmals bauen. Die mechanische Werkstätte auf dem Dach war die Rüstkammer für ein viel größeres, ja abenteuerliches Bauvorhaben gewesen, das er zu tarnen verstand, bis, lange nach seinem Tod, sensible Frauen wie Frau Dr. Fanny Moser seinen geheimen Sinn errieten – oder Marybel.
    Wie ließ sich eine Sternwarte verstecken, ihr Bau verheimlichen?
    Im Hof, hinter der Linde, fand sich ein aufgelassener Sodbrunnen, vermutlich aus Ghetto-Zeiten. Horner hatte ihn mit einem Gitter bedeckt, damit niemand verunglückte. Als seine Kinder groß waren, begann ihr Vater mit dem Loch zu spielen. Er goß es aus, mit Mörtel und Kalk; um diesen Kern zog er ein rundes Gehäuse hoch und immer höher; schließlich erreichte der Turm das Niveau der Mansarde. Dafür beschäftigte er wandernde Arbeiter, die keine Fragen stellten, und morgen waren sie schon wieder fort.
    Das Gebäude enthielt eine geheime Botschaft. Wenn man HornersArtikel über «Magnetismus» verstand, konnte man sie entziffern. Daran war auch Jacques gescheitert. Er sagte: In den Augen hat er was von einem Flüchtling, der fürchtet, entdeckt zu werden, er sieht es kommen. Er glaubt nicht, was er sieht. Aber er muß dran glauben, das sieht er.
    Unter seinem Porträt reihten sich die einundzwanzig Bände von Gehlers «Physikalischem Wörterbuch», in denen Horners Beitrag zur Welt des wissenschaftlichen Fortschritts verzeichnet war. Er war auf achtundzwanzig mit
H
. signierte Artikel verzettelt, die wie Eisberge im kühlen Element des Lexikons trieben, verurteilt zum raschen Schmelzen in der Flucht der Zeit. Nie mehr würden sie sich zu einer zusammenhängenden Decke zusammenfügen.
    Brehms Tierleben, erklärte Jacques, könne man wenigstens als Sittengeschichte des 19. Jahrhunderts lesen. Aber antiquarische Physik? Marybel hatte das Werk lange gesucht; da hatte es Sidonie in einem Kopenhagener Antiquariat entdeckt und als Handgepäck nach Münsterburg mitfliegen lassen. Marybel hatte es in aller Stille abräumen und in ihrer Handbibliothek verstecken wollen. Aber für einmal war Achermann hart geblieben. Die Bände blieben beim Bildnis Caspar Horners. Dafür entschied sich Achermann gegen einen Feuerlöscher, obwohl er eigentlich obligatorisch war. Er hätte ihm den Raum verdorben.
    Früher hatten die drei Advokaten bei ihren Dachkonferenzen meist Juristendeutsch gesprochen; damit blieben sie unter sich, auch wenn Marybel, die Gießkanne in der Hand, jedes Wort mithörte. Solange Moritz dabei war, war für eine enge Auslegung des Privaten gesorgt. Doch jetzt tat Jacques seinem natürlichen Hang zur Indiskretion keinen Zwang mehr an. Mara hatte sich, nach der fulminanten Ouvertüre auf dem Bodensee, als unnachsichtige Pedantin des Zusammenlebens erwiesen. Aber mehr als die Trennung traf ihn, daß sie «dem Alten wieder zugelaufen war». Thomas Schinz hatte einen kleinen Schlaganfall gehabt, und Mara nahm die Gelegenheit wahr, sich als reuige Pflegerin unentbehrlich zumachen. Jacques tröstete sich mit dem klassischen Pyrrhus-Wort: «Noch ein solcher Sieg, und er ist verloren.»
    Das war die Frage. Denn inzwischen hatten sich zwischen dem Bankhaus Schinz & Cie. und dem «zum Zinstragenden Sparhafen» Verbindungen angesponnen, von denen «Analysten» vermuteten, daß sich dahinter ein vom alten Schinz längst angezetteltes Spiel verbarg. Man konnte es so sehen, daß Moritz bei Schinz «eingetreten», aber auch so, daß dieser bei Moritz «untergeschlüpft» und seine fortgesetzte Selbständigkeit nur noch Fassade war. Auch wenn die Finanzvolumina beider Institute unterschiedlich waren, so taten doch Schinz-Aktien bei der Verbindung einen Sprung nach oben, und er profitierte von der Eingliederung in eine selbstverwaltete Banken-Genossenschaft. Auf welcher Seite die größere Ironie dieser Entwicklung lag, blieb offen. Fest stand, daß Moritz de facto ebendas geworden war, wozu ihn Thomas Schinz gern gemacht hätte: sein Nachfolger. Man konnte nur hoffen, daß Moritz immer noch wußte, was er tat, und wissen wollte, ob er noch schluckte oder

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