Sayuri
Hände vor der Brust und senkte den Blick zu Boden.
Noch heute Abend brechen wir auf, entschied er stumm.
Mit einem traurigen Lächeln wandte sie sich zu ihm um. Ja, stimmte sie leise zu, noch heute Nacht.
Und in dem Moment begriff Suieen erst, weshalb Sayuri diese Entscheidung gefällt hatte. Sie wusste genau, wie es um sie stand. Sie wusste, dass sie sterben würde, wenn sie nicht bald eine Quelle erreichte.
Das Lächeln erschien automatisch auf ihren Lippen, sobald sie an Kiyoshi dachte. Trotzig streckte sie ihrem Spiegelbild in der Wasserschale die Zunge heraus. Sie hatte geglaubt, älter und vernünftiger geworden zu sein, aber jetzt fühlte sie sich wieder wie ein kleines Mädchen. Als sie ihn gesehen hatte, war sie für einen Augenblick einfach nur glücklich gewesen. Aber seine Reaktion war so zurückhaltend gewesen, dass er sie einmal mehr verunsichert hatte.
Verärgert schöpfte sie Wasser aus der Schale und spritzte es sich ins Gesicht. Abgesehen von ihrer Katzenwäsche in der Oase war es das erste Mal, dass sie sich waschen konnte, und eigentlich hätte sie davon jede Sekunde genossen. Wenn nur nicht diese blöden Gedanken an Kiyoshi waren. Sie hatte sich ausgemalt, wie er auf die Neuigkeiten reagieren würde. Alles Mögliche hatte sie sich vorgestellt, nur nicht dieses knappe Nicken, mit dem er auf die Nachricht, dass er seine Suche nach der Quelle des Wissens aufgeben konnte, reagiert hatte. Marje hatte das Gefühl, dass er ihr gar nicht richtig zugehört hatte.
Enttäuscht blinzelte sie ihrem Spiegelbild entgegen, das die kleinen Wellen verzerrten, dann stellte sie die Schale wütend beiseite. Nicht einmal Milan hatte Zeit für sie gehabt. Anstatt ihr zuzuhören oder einfach nur kurz bei ihr zu sein, war er wieder in die alte Rolle des Unnahbaren geschlüpft, an die sie sich zwar all die Jahre über gewöhnt, die sie aber auch immer gehasst hatte.
Er war einfach verschwunden, genau wie Kiyoshi, und Marje hatte keine Ahnung, wohin.
Nicht dass sie das wunderte. Zumindest nicht bei Milan.
Sie war noch klein gewesen, als sie nach dem Tod ihrer Eltern während des Krieges in die Kaiserstadt geflohen waren, so klein, dass Marje sich an fast nichts erinnerte. Sie wusste nur noch, wie verloren und hilflos sie sich ohne ihre Eltern und inmitten der Unmengen an Gerüchen, Geräuschen und Menschen in den Straßen gefühlt hatte. Milan hatte einen Keller für sie gesucht, einen kleinen muffigen Raum, in dem sie die ersten Jahre gelebt hatten. Er hatte sie versorgt, mit allem, was sie brauchten, ohne ihr zu sagen, woher er es nahm; in einer Stadt, die von Flüchtlingen überlaufen war und kaum genug hatte, um sich nach den heftigen Kriegen selbst zu versorgen. Erst als sie älter war, hatte sie verstanden, warum er sie auf der Straße nie hatte bei sich haben wollen. Er hatte für sie gelogen, gestohlen – und er hatte Angst gehabt, dass er sie dadurch in Gefahr brachte.
Deshalb hatte er auch von ihr verlangt, dass sie ihn auf der Straße niemals als Bruder begrüßte, ihn überhaupt nicht begrüßte, immer distanziert blieb, als würde sie ihn nicht kennen. Nie durfte sie nach ihm suchen, wenn er nicht zurückkam. Bei der Erinnerung an seinen Zorn, als sie sich einmal, nachdem er zwei Tage fort gewesen war, vor ihrem Haus in seine Arme geworfen hatte, krampfte sich noch immer ihr Magen zusammen.
Erst als es den Menschen in der Stadt etwas besser ging und einige Bauern auf ihre Felder zurückkehrten, die sie mithilfe des Wassers aus der Stadt bestellen konnten, hatte sich die Lage mehr und mehr entspannt. Sie hatte in der Stadt Freunde gefunden und war mit Thar und Shoan durch die Straßen gezogen. Nur Milan war für sie in der Öffentlichkeit noch immer unerreichbar gewesen. Bis zuletzt hatte er sie nur in seine Pläne eingeweiht, wenn es unbedingt sein musste, auch wenn sich sein Ruf längst verbessert hatte.
Aber jetzt? Hier, nach all dem, was passiert war?
Wütend griff sie erneut nach der Wasserschale und betrachtete konzentriert ihr Spiegelbild. Ihre Augen kamen ihr dunkler vor, was am schlechten Licht der Lampe im Zelt liegen mochte, die Locken reichten ihr bis zu den Schultern und umrahmten ein Gesicht, das mit der Zeit immer kantiger geworden war. Sie hatte das gleiche energische Kinn wie ihr Bruder. Marje fand, dass es das Gesicht einer erwachsenen Frau war.
Und so wollte sie auch behandelt werden – von Milan und von Kiyoshi.
Vor allem von Kiyoshi.
Sie griff nach seinem Umhang, den sie
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