Sayuri
Eindruck, dass du vor mir davonläufst«, sagte sie. »Beiße ich vielleicht? Oder hast du Angst, dass ich mich in eine Essjiar verwandele?«
Über Kiyoshis Gesicht zuckte ein Grinsen. Er legte den Kopf schief und sah zu ihr hoch. Sein Grinsen wurde zu einem Lächeln und ließ seine Augen leuchten. »Ganz im Gegenteil«, sagte er.
Marjes Herz begann wie wild zu klopfen, obwohl sie versuchte, es mit aller Macht zu unterdrücken. Was tat dieser Junge nur mit ihr? Eigentlich sollte sie sauer auf ihn sein, stattdessen zitterten ihre Knie und in ihrem Magen führten die Irrlichter einen wilden Tanz auf.
»Soll ich lieber wieder gehen?«, fragte sie verunsichert.
Kiyoshi schüttelte den Kopf. »Bitte nicht«, bat er sie. Plötzlich schien er unsicher zu werden. Er sah Marje an und biss sich auf die Lippen. »Setzt du dich zu mir?«, fragte er. Es klang schüchtern.
Marje zögerte, doch dann ließ sie sich neben ihn in den Sand fallen.
Er legte den Kopf in den Nacken, um die Sterne und die Monde zu betrachten. »Sie sind hier draußen so viel heller als in der Stadt«, sagte er leise.
Marje hob ihren Blick ebenfalls zu den Gestirnen. Sie schwiegen eine ganze Weile. Ein dunkler Schatten lag über Turu, doch er war kaum wahrnehmbar, wie ein Nebel, der kurz davor war, sich zu lichten.
»Woran denkst du?«, fragte Marje schließlich.
Er wandte sich ihr zu. Seine Augen schimmerten in diesem Licht eher blau als grün. Sie erinnerte sich, wie er ihr gesagt hatte, dass ihre Augen fast schwarz wurden, wenn sie traurig war.
»An dich«, erwiderte er schlicht.
Jetzt war es Marje, die sich auf die Lippen biss. »Ich verstehe dich nicht«, sagte sie bedrückt. »Warum rennst du dann vor mir davon?«
Er stöhnte auf. »Das ist kompliziert.«
Sie ließ seinen Blick nicht los. »Zu kompliziert für ein Tallermädchen?«, fragte sie und grinste leicht.
Er erwiderte ihr Lächeln. »Eher zu kompliziert für einen Prinzen.«
»Vielleicht wird es leichter, wenn du darüber sprichst?«
Er schwieg einen Moment und sah auf die Lagerfeuer hinunter. Leiser Gesang drang zu ihnen herauf. Marje beobachtete, wie sich einige Zentauren einen Platz für die Nacht suchten. Milan und Thalion saßen vor ihrem Zelt, ihre Köpfe zusammengesteckt. Über das Lager legte sich eine friedliche Stille.
»Ich habe meinen Vater nie kennengelernt«, sagte Kiyoshi leise. »Er war der Bruder von Miro und dem Kaiser. Er ist kurz vor meiner Geburt gestorben. Und meine Mutter, sie war … sie ist, wie sie ist. Seit ich denken kann, befindet sie sich in diesem Zustand. Manchmal erkennt sie mich, manchmal auch nicht. Den Kaiser habe ich in meinem Leben kaum ein halbes Dutzend Mal zu Gesicht bekommen. Es war Miro, der mich großgezogen hat.« Er schüttelte den Kopf. »Du denkst, er ist der kaltherzige Regent, der nach Gutdünken entscheidet und sich nicht um die Menschen kümmert. Aber ich habe ihn anders kennengelernt. Er ist …«, er schluckte sichtbar. »Er hat zwei Gesichter. Manchmal glaube ich, er tut es wirklich nur um der Macht willen. Oder weil er den Kaiser schützen will. Dann wieder denke ich, ihm liegt tatsächlich etwas an den Menschen in der Stadt. Er versucht sie zu retten und muss dafür Opfer bringen.«
»Aber er misst mit zweierlei Maß«, sagte Marje. Ihre frühere Wut bei solchen Diskussionen war verflogen, aber ihre Meinung hatte sich nicht geändert. »Sonst hätte er nie zugelassen, was mit uns Tallern passiert.«
Kiyoshi wiegte den Kopf. »Mag sein. Vielleicht hätte er nicht die Kontrolle über das Wasser den Händlern überlassen sollen. Vielleicht hat er einmal zu oft an die Steuereinnahmen aus dem Wassergeschäft gedacht. Aber ich kann ihn trotzdem nicht so verurteilen, wie du das tust.« Er stockte. »Auch wenn er mir viele Fragen nie beantwortet hat, die mir auf der Seele brannten.«
Marje sah ihn von der Seite an. Er strich mit der Hand über den Sand, formte ihn zu kleinen Hügeln, die er gleich darauf wieder glatt strich.
»Das ist der Grund, warum du vorhin weggelaufen bist, oder?«, fragte sie vorsichtig. »Du bist enttäuscht, dass ich es war, die die Quelle des Wissens gefunden hat. Weil du diese Fragen ihr hast stellen wollen.«
Er nickte. »Ja«, flüsterte er. »Es tut mir leid. Aber die Quelle des Wissens – ich hatte so gehofft …« Er brach für einen Moment ab. Seine Faust ballte sich zusammen, die Knöchel wurden ganz hell. »Weißt du, es ging mir nicht nur darum, wie man der Stadt und dem Kaiser helfen
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