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Sayuri

Sayuri

Titel: Sayuri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carina Bargmann
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Angst füllte.
    Er war ohnmächtig gegen das, was kommen musste.
    Nein, noch schlimmer.
    Er hatte ihm sogar zugestimmt.
    Kurz schloss er die Augen und ermahnte sich, sich nichts anmerken zu lassen. Doch trotz aller Entschlossenheit konnte er den Menschen am Ufer und in ihren Booten nicht in die Augen sehen. Er schaute hinüber zu Miro, der wie eine Statue im Boot stand. Sein Blick war nach vorne gerichtet, ein majestätisches Lächeln umspielte seine Lippen.
    Neben ihm fühlte Kiyoshi sich klein und unbedeutend. Früher hatte er seinen Onkel uneingeschränkt bewundert. Doch während der letzten Stunden hatten sich neben seine Bewunderung noch andere Gefühle geschlichen: Zweifel und Furcht.
    Miro war ein Mensch, der es gewohnt war, die Fäden in der Hand zu halten. All seine Handlungen waren wohldurchdacht und von langer Hand geplant. Diesmal hatte er Kiyoshi zwar in sein Vorhaben eingeweiht, hatte ihm seine Beweggründe für sein Handeln mitgeteilt, aber Kiyoshi fühlte sich so elend dabei, als hätte er selbst diese Entscheidungen getroffen.
    Mit dem nächsten Ruderschlag erreichten sie die erste breite Kreuzung, auf der sich die Menschenmassen versammelt hatten, um die Rede des Kaiserbruders zu hören.
    Nun war es also so weit. Kiyoshi senkte den Blick, als Miro seine Stimme erhob.
    »Lauryns Frühling ist gekommen«, rief Miro und alles Gemurmel, die Hochrufe und das Gelächter unter den Bürgern verstummten. »Lauryn ist zurückgekehrt, so wie er es jedes Jahr tut. Doch diesmal bringt er schlechte Kunde für die Stadt.«
    Kiyoshi hielt den Atem an und schloss für einen Moment die Augen.
    »Die Sterne haben zu uns gesprochen. Sie weisen auf ein Zeichen zurück, das vor sechzehn Jahren am Firmament prangte, als Tjor, der Fluss, und Smiyon, das Kind, einander nahe kamen.«
    Kiyoshi hob wie viele andere unwillkürlich den Blick zum Himmel empor, wo die beiden Sternbilder nun wieder weit voneinander entfernt standen. Aber wie alle Sternbilder wanderten auch sie und vor sechzehn Jahren waren sie einander so nahe gewesen, dass sie einzelne Sterne miteinander geteilt hatten.
    »Vor sechzehn Jahren verkündeten die Sterne eine Katastrophe«, fuhr Miro mit schwerer Stimme fort. »Die Kinder, die in jenem Jahr das Licht der Welt erblickten, sind unwiderruflich an den Fluss gebunden. Sie schöpfen ihre Kraft aus seiner Quelle, und während sie immer stärker werden, wird die Quelle schwächer. Bürger – wir können es nicht länger leugnen –, Shanus Kraft schwindet. Der Wasserstand sinkt.«
    Eine Frau schrie auf. Man konnte ihre Worte nicht verstehen, hörte aber deutlich das Entsetzen in ihrer Stimme. Kiyoshis Hände begannen zu schwitzen, als ein paar Soldaten drohend für Ruhe sorgten.
    Das hier ist nur der Anfang, schoss es ihm durch den Kopf.
    »In den letzten Jahren blieb es uns noch verborgen, der Fluss wurde nur langsam schwächer«, tönte Miros Stimme über das Wasser. »Lange Zeit wollten wir der Wahrheit nicht ins Auge sehen, aus Angst vor den Folgen. Doch nun können wir unseren Blick nicht länger verschließen.«
    Das Murmeln und Geraune in der Menge wurde lauter. Die Soldaten konnten die Menschen kaum noch zur Ruhe bringen.
    Dabei wissen sie es noch gar nicht, dachte Kiyoshi bei sich und musste sich zwingen, nicht laut aufzustöhnen. Sie haben keine Ahnung, was noch kommt!
    Miros Stimme schnitt unerbittlich durch die Abendluft. »Der Kaiser hat seine Entscheidung gefällt. Um uns und die Stadt zu retten, müssen alle Kinder, die in jenem schicksalhaften Jahr geboren wurden, die Stadt verlassen. Dulden wir sie noch länger hier, wird die Quelle versiegen und der Shanu wird austrocknen.«
    »Nein! Nicht mein Kind! Nein!« Eine Frau stand am Ufer. Angsterfüllt hatte sie ihre Arme um ein schmales dunkelhaariges Mädchen neben sich gelegt.
    »Bürger der Stadt.« Miro hob die Hände. »Wir haben keine andere Wahl!« Mittlerweile war es totenstill geworden. »Hier ist unser Entschluss: Die Soldaten werden morgen früh damit beginnen, alle Sechzehnjährigen aus der Stadt zu bringen. Jegliche Zuwiderhandlung wird nach den Gesetzen des Palastes geahndet werden.«
    Ein lautes Schluchzen durchbrach das lähmende Schweigen. Die Frau, die ihre Tochter fest umklammert hielt, war in Tränen ausgebrochen. Schützend legte ein Mann seinen Arm um sie. Vereinzelte Zornesrufe wurden laut.
    Miro hob die Hand. Die Boote setzten sich wieder in Bewegung, glitten über den Fluss, auf dem Weg ins nächste Viertel.
    Miro ließ

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