Sayuri
hätte er wie ein kleines Kind seine Hände auf die Ohren gepresst.
Nichts hören, nichts sehen. Keine Verantwortung tragen.
»Der Kaiser hat seine Entscheidung gefällt. Um uns und die Stadt zu retten, müssen alle Kinder, die in jenem schicksalhaften Jahr geboren wurden, die Stadt verlassen. Dulden wir sie noch länger hier, wird die Quelle versiegen und der Shanu wird austrocknen.«
Der Blick des Mädchens raste zu ihm zurück.
Und diesmal war es weder Vorwurf noch Verwirrung, die in ihrem Gesicht standen.
Es war blanker Hass.
Kiyoshi senkte den Kopf. Seine Wangen brannten.
Die Taller würde es als Erstes treffen, die Bewohner des äußeren Rings. Dort würde sein Onkel zuerst nach den Sechzehnjährigen suchen lassen, denn dort waren viele Jugendliche elternlos und diejenigen, die Familie hatten, besaßen zu wenig Einfluss oder Geld, um sich dem Befehl des Kaisers zu widersetzen.
Es waren zu viele Sechzehnjährige in der Stadt und sie alle zerrten an der Kraft der Quelle. Was nun zählte, waren Schnelligkeit und ein geringer Aufwand – so hatte es Miro ausgedrückt.
Wie gerne würde er dem Mädchen erklären, warum sie zu dieser drastischen Maßnahme greifen mussten, dass sie gar keine andere Wahl hatten, um die Stadt zu retten. Was waren schon die wenigen Sechzehnjährigen gegen das gesamte Volk, das aus Abertausenden bestand? Durfte man alle verdursten lassen, wenn es doch die Chance für eine Rettung gab?
Und noch etwas kam ihm in den Sinn. Welches Recht hatte dieses Mädchen eigentlich, ihn zu verurteilen, gar zu hassen?
Macht bedeutet auch immer Verantwortung. Hatte sie davon überhaupt eine Ahnung? Was wusste sie schon von dem, was der Palast zu entscheiden hatte? Von der Verantwortung, die der Kaiser und seine Familie trugen?
Die Wunde in seiner Seite machte sich mit stechenden Schmerzen bemerkbar, als das Boot sich unvermittelt wieder in Bewegung setzte. Er biss sich auf die Lippen, um nicht aufzuschreien.
Als er noch einmal zu dem Mädchen zurückblicken wollte, war es verschwunden.
Die Wunde brannte inzwischen so stark, dass Kiyoshi nur vage mitbekam, wie sich das Boot dem Stadttor näherte, an dem das kleine Wachhaus stand, wo trockene Kleidung für ihn bereitlag. Als er ins Wasser gesprungen war, war sofort ein Soldat losgeschickt worden, um alles Nötige zu veranlassen.
Kiyoshi war dankbar für die warmen Kleider, allerdings wusste er auch, dass noch drei Stadtviertel der alten Stadt vor ihnen lagen, bevor sie endlich den Schrein erreichen würden.
Es war das erste Mal in seinem Leben, dass Kiyoshi die Götter inbrünstig um Verzeihung bitten würde. Für eine Tat, die ihm bereits jetzt schwer zu schaffen machte.
Marje kam es vor, als würde die Zeit stehen bleiben. Wie versteinert stand sie an Shanus Ufer und starrte den Jungen an, der neben Miro im Kaiserboot stand. Sein Gesicht war leichenblass, seine festliche Kleidung völlig durchnässt und schlammverschmiert. Seine Augen jedoch waren so klar wie Turus Licht.
»Lauryns Frühling ist gekommen.« Die Stimme von Miro drang wie durch einen Nebel zu ihr. Kurz warf sie ihm und den Stadtwachen einen Blick zu, ehe sie sich wieder dem Jungen zuwandte, der sie unverwandt ansah.
Was hieß hier eigentlich Junge? Nicht einmal Stadtwache wäre die richtige Bezeichnung! In ihren beißenden Spott mischte sich allerdings auch ein Gefühl der Verwirrung.
Er war der Prinz! Jedes kleine Kind in der Stadt kannte sein Konterfei.
Marje konnte es noch immer kaum glauben. Niemand anders als der Neffe des Kaisers hatte ihr Gesicht im Licht der Lampions gesehen und sie ganz offensichtlich wiedererkannt!
Warum hetzt er nicht die Soldaten auf mich, schoss es durch ihren Kopf und sie blickte sich angstvoll um. Doch wohin sie sah, starrten ihr nur fassungslose Gesichter aus der Menge entgegen.
Verwirrt blickte sie hinüber zu den herrschaftlichen Booten. Die Flagge mit dem Wiljar wehte stolz über dem Podest, auf dem Miro sich aufgebaut hatte.
»… lange Zeit wollten wir der Wahrheit nicht ins Auge sehen, aus Angst vor den Folgen. Doch nun können wir unseren Blick nicht länger verschließen.«
Wovor können wir unseren Blick nicht länger verschließen? Marje grub die Fingernägel in ihre Handflächen. Warum hatte sie sich nur durch den Jungen ablenken lassen?
Die Stimme des Kaiserbruders peitschte über das Wasser. »… müssen alle Kinder, die in jenem schicksalhaften Jahr geboren wurden, die Stadt verlassen. Dulden wir sie noch länger hier,
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