Sayuri
durch den äußeren Ring zog, zahlten viele Menschen den Wegezoll, um ihn in dieser wichtigen Nacht sehen zu können.
»Ein kleines Vögelchen hat mich hierherbeordert. Es hieß, es gäbe Wichtiges zu besprechen.« Ruans Gesicht wirkte trotz der harten Konturen und der scharf geschnittenen Nase weich. Wenn er lächelte, leuchteten seine dunklen Augen unter den schmalen Brauen warm. »Und wenn Milan ruft, so ist sein Anliegen doch stets wichtiger als jedes Fest und jede Prozession des Kaisers oder seines Bruders.« Nach einer leichten Verneigung in Milans Richtung ließ sich Ruan wieder auf der Theke nieder.
Marje wandte sich zu Milan um und hob fragend eine Augenbraue, doch in diesem Moment betrat Sayuri den Laden und alle Aufmerksamkeit richtete sich auf die dampfenden Tassen, die sie auf einem Tablett hereintrug.
Mit einem stillen Lächeln begrüßte das weißhaarige Mädchen Marje und wollte sich dann wieder in den dunklen Flur hinter den Laden zurückziehen, als Ruan ihren Arm ergriff und sie zu sich auf die Theke zog. »Wir müssen uns schließlich keine Sorgen machen, dass du irgendetwas ausplaudern könntest«, meinte er grinsend. »Und jetzt erzähl uns endlich, worum es geht!«, wandte er sich an Milan.
Die anderen Anwesenden nickten zustimmend. Marje ließ ihren Blick durch den Raum schweifen und ihre Augen hielten bei jedem von ihnen kurz inne. Bei zwei Jungen konnte sie das Zeichen des Ostviertels erkennen, aus dem auch Ruan stammte, zwei weitere Jungen und ein Mädchen trugen den Nordstern und auf der zerschlissenen Hemdbrust eines schlaksigen Jungen prangte das Zeichen des Südviertels. Zwar kamen ihr einige Gesichter bekannt vor, aber nur Ruan kannte sie beim Namen. Wie Milan auch war Ruan in vielen Vierteln zu Hause und die meisten Straßenkinder kannten ihn.
Milan unterrichtete die Anführer der Viertel über das, was Miro in dieser Nacht verkündet hatte. Außerdem hatte er bereits mehr über die Maßnahmen herausgefunden, die nun folgen würden.
Schließlich bat er um Meinungsäußerungen.
»Das kann der Kaiser nicht ernst meinen«, meldete sich ein Mädchen zu Wort, das Marje noch nie zuvor gesehen hatte. »Wie will er denn alle Sechzehnjährigen aus der Stadt verbannen? Er kann sie wohl kaum von Fünfzehn- oder Siebzehnjährigen unterscheiden!«
Erst richteten sich die Blicke auf Milan, aber es war Ruan, der antwortete. »Natürlich kann er das nicht. Er wird sich auf die Aufzeichnungen der Stadtbücher verlassen. Aber die Frage ist doch eher: Glauben wir dem Kaiser tatsächlich, dass der Wasserstand sinkt? Der Shanu ist seit Miros Rede nicht einen Zentimeter gesunken. Eine Sternenkonstellation soll vor sechzehn Jahren unser Schicksal besiegelt haben? Gut, dass man das so genau überprüfen kann!«
»Zumindest nicht, wenn man nicht im Dienste des Kaisers steht«, sagte Milan. »Oder ein Angehöriger des Palastes ist. Nur die Familie des Kaisers hat Zugang zum Schrein und zum Buch der Prophezeiungen.«
Betretenes Schweigen breitete sich im Laden aus. Marje nickte leicht. Milan und Ruan hatten recht. Auch sie hatte bereits etwas Ähnliches gedacht.
»Das würde bedeuten, dass der Kaiser ein anderes Ziel verfolgt«, überlegte der Junge aus dem Süden laut.
Milan breitete die Hände aus. »Ich halte es für wahrscheinlich, dass man vor allem die Taller damit treffen will und insbesondere die Kinder und Jugendlichen, die ohne Familien auf der Straße leben.« Kurz warf er Marje einen Blick zu. »Ihr wisst, dass wir letzte Nacht in eine Zinade eingebrochen sind?«
Alle nickten. Ruan zog die Stirn in Falten und legte einen Arm um Sayuri, die plötzlich zu frösteln schien.
Marje lächelte Sayuri aufmunternd zu. Ihre Freundin schien sich alles andere als wohl in der Gesellschaft zu fühlen, auch wenn sie offenbar zu Ruan Vertrauen gefasst hatte. Niemals sonst hätte sie diese Geste zugelassen und Ruan war sich dessen bewusst, denn sein Blick glitt immer wieder voll Bewunderung und Stolz über das zierliche Mädchen an seiner Seite.
»Marje hatte in dieser Nacht noch ein kleines Zusammentreffen«, fuhr Milan fort und warf ihr einen seiner Blicke zu, die sie nur zu genau kannte.
Überrascht blinzelte Marje. Woher wusste er davon? Hatte er sie etwa beobachtet?
Sein Lächeln war Marje Antwort genug und Ärger stieg in ihr auf. Am liebsten hätte sie ihn zur Rede gestellt. Er musste doch gewusst haben, wie ausweglos ihre Situation letzte Nacht gewesen war. Warum nur war er nicht
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