Sayuri
Mut und viel Glück konnte sie es von dort in den Palastgarten schaffen.
In Gedanken verfluchte sie Milans waghalsigen Plan. Selbst wenn er es schaffen sollte, an Miro heranzukommen und ihn sogar zu töten – er selbst würde gefasst werden und sein Leben dafür lassen müssen, genauso wie Ruan und die Freunde, die sie begleiteten. Tränen stiegen ihr in die Augen und nahmen ihr für einen Moment die Sicht.
Doch gleich darauf wischte sie sich energisch übers Gesicht. Sie durfte jetzt nicht heulen! Noch war es vielleicht Zeit, Milan von seinem aberwitzigen Plan abzubringen.
Lautlos stieg sie über den Zaun in den Nachbargarten und hielt sich im Schutz der Schatten, während sie zur Mauer lief. Dort angekommen, zog sie sich vorsichtig am untersten Ast des Baumes in die Höhe, hielt sich an einer Astgabelung fest und fand mit einem Fuß auf der brüchigen Rinde Halt.
Ihr Mantel blieb an einem Ast hängen, umständlich musste sie den störrischen Stoff wieder befreien. Ihre Hände zitterten vor Ungeduld. Das dauerte zu lange! Sie hatte keine Zeit mehr!
Endlich konnte sie über die Palastmauer spähen. Die Wege hinter der Mauer, die über zahlreiche kleine Inseln und Stege führten, waren mit Fackeln hell beleuchtet.
Mist! Dort würde sie sofort entdeckt werden.
Sie spähte nach rechts und links, doch sie konnte keine Patrouillen ausmachen.
Sie hatte Ruan einmal erzählen hören, dass hier die einzige Stelle war, die keine festen Wachposten hatte, aber Soldaten patroullierten regelmäßig durch die Gärten, ähnlich wie in der Zinade. Wenn sie doch nur wüsste, wann die Männer hier vorbeikommen würden!
Stimmengemurmel wurde laut, dann hörte sie Schritte. Dort drüben – da näherten sich zwei Soldaten der Palastwache! Marje duckte sich instinktiv und zog den Kopf ein. Hatten die beiden sie gesehen? Die Soldaten hatten ihr Gespräch unterbrochen, was es schwer machte einzuschätzen, wann und ob sie schon heran waren.
Wurden die Stiefelschritte nun lauter oder leiser?
Verzweifelt lauschte sie in die Dunkelheit. Aber irgendwann erschien es Marje, als ob die Geräusche schwächer wurden.
Keinen Moment zu früh.
Denn in diesem Augenblick knirschte es unter Marjes Fuß und der Ast brach ab. Panisch umklammerte sie die Kante der Mauer und prallte schwungvoll dagegen. Für einen Moment blieb ihr die Luft weg. Ihre Hände krallten sich an dem moosbewachsenen Stein fest. Vorsichtig versuchte sie sich in die Höhe zu ziehen, tastete mit einem Fuß in der Luft nach einem anderen Ast, um sich auf ihm abstützen zu können.
Da, ihr Fuß stieß gegen Holz, das nach einer kurzen Belastungsprobe einen ganz vertrauenerweckenden Eindruck machte. Sie verlagerte ihr Gewicht und beim zweiten Versuch gelang es ihr, auf die Mauer zu klettern. Einen Augenblick lang schöpfte sie Atem und strich sich die Haare aus der schweißnassen Stirn, auch auf die Gefahr hin, im Mondlicht auf der Mauer entdeckt zu werden.
Atemlos warf sie einen Blick in den Palastgarten unter ihr.
Sie würde sich alle Beine brechen, wenn sie dort hinuntersprang!
Fast hätte sie einen lauten Fluch ausgestoßen, aber dann riss sie sich zusammen. Sie war so weit gekommen. Jetzt aufzugeben, kam nicht infrage! Die Patrouille hatte eben erst diese Stelle passiert, die nächste folgte sicher nicht gleich auf dem Fuß – das würde Marje die Zeit geben, die sie brauchte.
Sie blickte auf die Äste des Baumes im Garten, aus dem sie gekommen war. Wenn sie einen der langen Zweige, die über die Mauer ragten, etwas weiter oben zu fassen bekäme, könnte sie sich daranhängen und die Höhe etwas verringern.
Wenn sich das Ding nicht als so morsch herausstellt wie der von eben, dachte sie.
Aber hatte sie eine Wahl? Sie sah sich noch einmal um, schätzte die Entfernung ab und machte dann einen Hechtsprung.
Was dann folgte, geschah in einem Bruchteil von Sekunden, aber Marje erschien es wie eine Ewigkeit. Sie bekam den Zweig zu fassen, er schnellte durch ihr Gewicht nach unten und sie wurde empfindlich gegen die Palastmauer geschleudert. Sie fühlte, wie ihre Hose am rauen Stein aufgerissen wurde, und dann ließ sie einfach los und fiel und fiel – und einen Moment später stürzte sie auf etwas, das sich weich und schwammig anfühlte.
Für einen Moment blieb ihr die Luft weg. Erst dann begriff sie, dass der Moosteppich am Fuß der Mauer sie vermutlich vor Schlimmerem bewahrt hatte. Am liebsten hätte sie sich einfach in das feuchte grüne Bett gelegt, um
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