Sayuri
sich an den Ufern drängten, weil sie plötzlich neben einem Boot niederkniete, um das sich spiegelnde Licht Tshanils im Wasser zu beobachten.
Und schon wieder spürte Marje, dass ihre Freundin stehen geblieben war. Sayuri hatte die Auslage eines kleinen Ladens ins Auge gefasst. Götterfiguren aus Messing reihten sich an Öllampen und es gab bunte Schals, auf denen wild durcheinandergewürfelte Tiergestalten zu erahnen waren. Marje erkannte eine mehrköpfige Schlange, einen Adler, dessen Leib in den eines Pferdes überging, und gehörnte Menschen, deren Füße zu Hufen verkrümmt waren. »Komm, Sayuri!«, drängte sie unruhig.
Sayuri nickte leicht. Sie hatte die Hand ausgestreckt, als wollte sie nach einer der Figuren greifen, ließ sie dann aber wieder sinken und wandte sich so hastig ab, dass sie beinahe einen Mann angerempelt hätte.
Marje legte schützend einen Arm um ihre Freundin und zog sie mit sich. Die Stadt war in Aufruhr. Überall sah man zerstörte Haustüren und die Soldaten patrouillierten durch die Viertel.
Zudem waren die Straßen noch dichter bevölkert als sonst. Gestern hatte der Großmarkt zu Lauryns Frühling geendet und nun zogen die Bauern mit ihren Karren wieder aufs Land. Doch ein Gutes hatte die Sache. In dem Treiben konnten Sayuri und Marje leicht untertauchen.
Die meisten Ladeflächen der Griongespanne waren leer, denn alle Bewohner waren auf die Ernte der Bauern angewiesen, ebenso wie der Palast. Die Stadt konnte ohne die Bauern genauso wenig leben wie ohne den Kaiser.
Wenn sie Glück hatten, konnte einer von ihnen Hilfe auf seinem Hof gebrauchen. Und sie mussten Glück haben! Denn eine andere Möglichkeit, dort draußen zu überleben, gab es nicht.
Für einen kurzen Moment dachte Marje an die furchtbaren Geschichten von den Söldnerclans, die bei den Minen Arbeitslager unterhielten und jeden aufgriffen, der hilflos vor den Toren der Stadt umherirrte. Die Söldnerclans lebten vom Tauschhandel, den sie mit ihren kostbaren Gesteinen betrieben. Von den Lagern und den Sklaven der Söldner flüsterte man in der Stadt nur hinter vorgehaltener Hand – keiner sprach gerne darüber. Und Marje hatte nie einen Grund gesehen nachzufragen.
Bis heute.
Sie überlegte, einen der Bauern noch auf der Straße anzusprechen, verwarf die Idee dann aber wieder. Die meisten waren zu sehr damit beschäftigt, die Grions in Schach zu halten, die die Karren und Kutschen zogen. Ihre massigen Leiber waren mit dem Hab und Gut ihrer Herren beladen und ihre Hufe hinterließen tiefe Abdrücke in der sandigen Straße. Doch ihre Schwerfälligkeit täuschte. Wenn die Grions der Enge der Stadt entkommen waren, waren sie zu Geschwindigkeiten fähig, mit denen kein Reitpferd mithalten konnte.
Zwischen den Hufspuren konnte man immer wieder schmale, kleine Spuren entdecken, die zu den Faons gehören mussten. Marje konnte sich noch daran erinnern, als kleines Mädchen selbst so einen dieser Wüstenhunde besessen zu haben. Gerne hätte sie auch in den letzten Jahren einen gehabt, aber Faons waren keine Geschöpfe für eine Stadt wie diese.
Ein Bauer schimpfte und ein Grion stieß ein dumpfes Brüllen aus, als eine Peitsche seinen Rücken traf. Die heiße Sonne, der langsame Trott und der Lärm reizten die Menschen.
Marje versuchte, Sayuri und sich vor den großen Wagenrädern und den ungeduldigen Grions in Sicherheit zu bringen. Der Markt, der ihr eben noch als Hilfe der Götter erschienen war, wurde nun zur Falle. Wie gerne wäre sie in eine der leeren Seitengassen abgebogen. Doch dort war die Gefahr zu groß, Soldaten in die Hände zu laufen, und so blieben sie auf der Hauptstraße, auch wenn sie nur langsam vorankamen.
Viel zu langsam, fand Marje, als sie wieder fast stehen blieben, während vor ihnen ein Grion nicht in die Richtung wollte, die sein Bauer ihm vorgab. Ein Faon strich um ihre Beine und Sayuri bückte sich, um ihn zu streicheln. Genüsslich streckte der Hund sich unter ihrer Hand, bevor ein Pfiff seines Herrn ihn wieder davonlaufen ließ.
Der Trott ging weiter, aber Sayuri blieb einfach stehen. »Komm schon«, rief Marje und zog sie mit sich. Sayuris Blick hing an dem Faon, bis er in dem Gewühl von Füßen und Wagenrädern verschwand. Dann endlich ließ sie sich widerstandslos weiterziehen.
Endlich kam vor ihnen das Stadttor in Sicht. Marje starrte in Richtung des hohen Torbogens in der breiten Mauer. Noch konnte sie ihn mehr erahnen, als dass sie ihn wirklich sah. Die Luft flimmerte in der Hitze.
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