Scarlett – Die Liebe hat Augen wie Eis, der Tod hat Augen wie Feuer: Roman
man einen echten Toten vor sich hat. Sie hat ihn auf so ausgefallene und bildhafte Weise beschimpft, dass ich hier besser nicht wiedergebe, was sie gesagt hat. Im Fernsehen hätte man das nicht senden können, dort wäre das ein einziger Piepton gewesen. Immerhin hatte das Ganze zur Folge, dass er sich bei mir entschuldigt hat.
Die Zini schreibt unverständliche Formeln an die Tafel. Während sie sie erklärt, sieht sie ab und an zu mir herüber, als wollte sie mich fragen, ob es mir gut geht. Ich beschränke mich darauf, sie anzulächeln. Mir geht es gut, sagt mein Lächeln. Das ist eine Lüge, aber dann macht sie wenigstens weiter.
In Wahrheit habe ich das Gefühl zu ersticken.
Obwohl es wehtut, zwinge ich mich, in Gedanken noch einmal an den Schauplatz des Verbrechens zurückzukehren. Ich habe etwas Seltsames gesehen, da bin ich mir sicher. Und dieses Etwas könnte mir dabei helfen, Klarheit über Edoardos Tod zu gewinnen. Das bin ich ihm schuldig. Ich bin davon überzeugt, dass mir ein wichtiges Detail entgeht. Aber was war es?
Edoardo war der freundlichste, liebenswerteste und beste Mensch auf der Welt. Wer könnte ihn getötet haben? Und warum?
Die Bücher waren sein Leben. In der Bibliothek gab es nichts, was einen Dieb interessieren könnte. Und wenn es doch so war? Ein versuchter Diebstahl, der in einer Tragödie geendet hat? Vielleicht hat Edoardo versucht, sich zu verteidigen und …
Aber am helllichten Tag? Während es überall von Schülern nur so wimmelte? Wer könnte sich für einen Haufen Bücher interessieren? Die kann man sich doch in der Bibliothek ausleihen, völlig umsonst. Dazu stehen sie ja dort.
Überleg mal, Scarlett, da sind noch die alten Handschriften. Die sind kostbar, sie haben einen historischen Wert. Man braucht eine spezielle Erlaubnis, um sie sich auch nur anzusehen.
Vielleicht ein Sammler oder … Möglicherweise hat Edoardo etwas gesehen, das er nicht hätte sehen sollen. Ich bemerke, dass ich zittere. Mein Körper bewegt sich von allein, er entzieht sich meiner Kontrolle.
»Alles in Ordnung, Scarlett?« Die Zini sieht mich besorgt an, kommt zu mir und legt mir eine Hand auf den Arm.
»Ich glaube schon.«
»Du zitterst … Möchtest du kurz rausgehen, ein wenig frische Luft schnappen?«
»Ich glaube, das ist eine gute Idee«, stammele ich.
»Soll dich jemand begleiten?«
»Das ist nicht nötig. Ich drehe eine kurze Runde, vielleicht spritze ich mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht. Es ist alles in Ordnung, danke.«
Jetzt gibt es nur eins zu tun: Klarheit schaffen. Und das kann ich nur, wenn ich in die Bibliothek zurückkehre und meine Schritte zurückverfolge, die ich an dem Tag gemacht habe, als man mir meinen besten Freund genommen hat.
Ich umklammere sein letztes Geschenk, die rosa Fliege.
Stärker als je zuvor empfinde ich das Bedürfnis, ihm ganz nah zu sein. Ich weiß, dass ich im Begriff bin, die Schulordnung zu verletzen. Wenn man mich dabei erwischt, droht mir die Suspendierung, aber das ist mir egal. Mit langen Schritten laufe ich den Flur entlang. Durch die Türen der Klassenzimmer dringen gedämpfte Stimmen nach außen. Jetzt liegt die Tür zur Bibliothek vor mir. Ich ducke mich, damit ich die Siegel nicht verletzen muss, und drücke die Klinke herunter. Die Tür ist offen! Schnell schlüpfe ich hinein und schließe sie hinter mir. Ich hätte nicht gedacht, dass es so leicht sein würde.
Dichtes Halbdunkel umfängt mich, gespenstische Stille. Auf Zehenspitzen laufe ich über den Marmorboden, mit Tränen in den Augen. Ich dränge sie zurück und zwinge mich, langsam zu atmen. Auf keinen Fall darf ich jetzt zu viel Luft auf einmal einatmen und hyperventilieren. Um mich herum liegen Bücher, stumme Zeugen von Edoardos Tod.
Wenn sie doch nur reden könnten!
Ich gehe ganz nach hinten zu dem Tisch, der in der Nähe der Tür steht, die in den Garten führt. Dort bin ich an jenem Tag hereingekommen, nachdem ich das Mädchen mit dem Elfengesicht getroffen habe, Rotkäppchen. Wer war das? Ich muss sie wiederfinden, vielleicht kann sie mir ein paar wichtige Einzelheiten liefern.
Langsam gehe ich vorwärts. Jetzt bin ich nur noch ein paar Schritte von der Stelle entfernt, an der …
Ich schlucke schwer und habe das Gefühl zu ersticken. Ich umrunde den Tisch und stelle mich an den gleichen Platz wie an jenem Vormittag. Dort drüben lag Edoardo unter einem weißen Laken. Ein paar Meter weiter seine Fliege. Instinktiv streichele ich die, die er mir geschenkt
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