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Scarlett – Die Liebe hat Augen wie Eis, der Tod hat Augen wie Feuer: Roman

Scarlett – Die Liebe hat Augen wie Eis, der Tod hat Augen wie Feuer: Roman

Titel: Scarlett – Die Liebe hat Augen wie Eis, der Tod hat Augen wie Feuer: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Baraldi
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hat. Ich muss die Augen fest zusammenkneifen, damit ich nicht in Tränen ausbreche.
    Als ich sie wieder öffne, nimmt die Szene vor mir Gestalt an, die jede Nacht meine Albträume erfüllt. Ich höre die Schreie. »Junge Frau, Sie können hier nicht bleiben!«, ruft ein Polizeibeamter. Edoardos Füße schauen unter dem Laken hervor. Sie sind unnatürlich verdreht, wirken wie die einer Marionette. Wie in Trance sehe ich die blutleere Hand, die unter dem weißen Laken hervorragt. Oh, mein Gott! Der Anblick erfüllt mich mit Grauen.
    Wenn der Ring nicht wäre, würde ich nie denken, dass es Edoardos Hand ist. Ich würde sogar bezweifeln, dass sie einem menschlichen Wesen gehört. Das ist das Detail, das ich verdrängt hatte! Es war zu grauenhaft, zu brutal. Seine Hand erscheint wieder und wieder vor meinen Augen. Sie ist verschrumpelt, unnatürlich blass. Sie sieht aus wie die einer Mumie. Runzlig, vertrocknet. Das kann doch nicht sein!
    Ich halte mir die Augen zu, um nicht mehr die Bilder zu sehen, die sich in meinem Kopf abspielen. Als ich die Hände wieder wegnehme, habe ich nur den leeren Boden vor mir. Auf dem glänzenden Marmor ist eine dunkle Spur zurückgeblieben, ein Umriss, fast wie ein Brandfleck, der sich nicht wegwaschen ließ. Bum, bum, bum . Mein Herz schlägt wie verrückt. Ich muss hier raus!
    Ein seltsamer Geruch liegt in der Luft. Ich bemerke ihn erst jetzt … Moment mal. Das ist der gleiche chemische Geruch, leicht, aber penetrant, von dem mir an dem Morgen übel geworden ist. Ein Rascheln zwischen den Regalen. Ich schrecke zusammen.
    Ich bin nicht allein … Ich fühle mich beobachtet. Hastig laufe ich zur Tür, dabei achte ich darauf, nichts zu berühren. Mit dem Ärmel meines Rollkragenpullovers drücke ich die Klinke herunter, damit ich keine Fingerabdrücke hinterlasse.
    Ich fühle mich, als wäre ich plötzlich in einem Film gelandet; deshalb kann ich jetzt nur eins machen, nämlich so gut wie möglich das nachahmen, was ich so oft auf dem Bildschirm gesehen habe.
    Keuchend erreiche ich den Flur. Ich sehe mich um, aber da ist kein Mensch, ich muss mich beruhigen. Ich schließe meine Hand fest um die Fliege und flüstere sanft ein Versprechen: »Ich werde die Wahrheit herausfinden, Edoardo. Das bin ich dir schuldig. Ich werde dafür sorgen, dass dir Gerechtigkeit widerfährt, koste es, was es wolle.«

40
    I ch bin mir gar nicht sicher, was ich wirklich gesehen habe. Kann ich meinen Erinnerungen trauen? Ich sehe Edoardos Hand verdreht auf dem Boden liegen, die verschrumpelte Haut, als hätte ihm jemand das Leben ausgesaugt. Als wäre er um hundert Jahre gealtert. Wie kann man so etwas mit einem Menschen machen?
    Ich bin im Schulhof. Mit gesenktem Blick laufe ich durch das typisch fröhliche Stimmengewirr der Schüler zu Unterrichtsschluss.
    »Hallo, Scarlett.« Es ist Umberto.
    Nicht jetzt, denke ich. Aber es ist zu spät, er hat mich schon gesehen.
    »Hallo«, sage ich und zwinge mich zu einem Lächeln.
    »Wie geht es dir?«
    »Mir ging’s schon mal besser.«
    So schnippisch wollte ich gar nicht rüberkommen, aber ich habe keine Lust auf große Erklärungen. Alle fragen mich, wie es mir geht. »Wie soll es mir schon gehen?«, würde ich am liebsten schreien. Mein bester Freund ist gerade gestorben, ich habe seine Leiche gesehen, und die Polizei tappt über die Motive seines Ablebens völlig im Dunkeln. Lorenzo sagt, in den Nachrichten hätte man dementiert, dass es sich um Mord handelt. Jetzt heißt es, er sei eines natürlichen Todes gestorben. Aber keine natürliche Todesursache kann einen Menschen so zurichten. Ich möchte mir ja gern einreden, dass meine Erinnerungen durch den Schock verfälscht sind, aber ich weiß genau, was ich gesehen habe. Edoardos Hand sah aus … wie die einer Mumie, die seinen Ring trug.
    Ich fühle mich beobachtet. Meine anfängliche Besorgnis weicht zunehmend blanker Angst, auch wenn es mir schwerfällt, mir das einzugestehen.
    »Das kann ich mir vorstellen. Ich wollte dir keine dumme Frage stellen … Soll ich dich irgendwohin fahren?«
    »Nein, danke.«
    »Wenn du irgendetwas brauchst, ich bin für dich da.«
    Ich weiß, dass er es ehrlich meint, seine kastanienbraunen Augen leuchten, und seine Stimme klingt zärtlich und liebevoll. Und doch möchte ich jetzt bloß noch weg, von ihm, von der Schule, von allen. Von den neugierigen Blicken und dem Getuschel über den Bibliothekar, das abbricht, sobald ich näher komme. Jetzt, da alle von meinem

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