Scarlett – Die Liebe hat Augen wie Eis, der Tod hat Augen wie Feuer: Roman
Fragezeichen. Anscheinend war ich komplett abwesend. Ich schaue mich um. Caterina flüstert mir etwas zu, aber das ist zwecklos, ich würde meine Hinrichtung nur aufschieben. Besser gebe ich meine Schuld gleich zu und bitte untertänig um Verzeihung.
»Es tut mir leid, ich bin nicht vorbereitet. Ich habe einige Tage gefehlt und bin in ein paar Fächern nicht auf dem Laufenden. Aber ich werde den Stoff so schnell wie möglich nachholen.«
»Gut. Aber holt man so den Stoff nach? Indem man mit dem Kopf in den Wolken schwebt? Wenn ich mich nicht irre, hat auch Draghi die letzten Tage gefehlt. Mal sehen, wie er sich mit den chansons de geste schlägt.«
Livio steht auf, seine Augen verschwinden hinter den rechteckigen dicken Brillengläsern, und er trägt eines seiner T-Shirts, diesmal mit der Aufschrift HATE in Frakturschrift. Er räuspert sich und stellt sich dem Thema mit einer Coolness, die ich ihm nie zugetraut hätte. Vielleicht habe ich ihn unterschätzt.
»Sehr gut, Draghi. Das kann ich von unserem Fräulein Castoldi nicht behaupten. Die Klasse ist wie die echte Welt, nur im Kleinen. Noch sind Sie alle Schüler und leben in einer beschützten Umgebung, aber schon bald werden Sie sich Verantwortungen stellen und in der Arbeitswelt bestehen müssen. Genau wie hier werden Sie auf Menschen treffen, die ihre Pflichten ernst nehmen …«, er sieht Livio an, »… und auf andere, die sich lieber hinter einer Ausrede verstecken …«, dabei wirft er mir einen verächtlichen Blick zu. »Persönliche Dinge dürfen Ihre schulischen Leistungen nicht beeinflussen. So, demnach hat Draghi sich ein dickes Plus verdient!«
Das glaube ich jetzt nicht! Zu mir gibt er nicht einmal einen Kommentar ab. Aber ich schlucke meine Verbitterung herunter und folge dem Rest der Stunde scheinbar gleichmütig, obwohl es in mir brodelt wie in einem Vulkan kurz vor dem Ausbruch.
»Nimm’s nicht so schwer, Scarlett. Er hat dir doch nicht einmal eine Note gegeben. Du solltest froh sein«, meint Cat.
»Umso schlimmer … Er hat mich gedemütigt. Ich bin ihm noch nicht einmal eine Beurteilung wert. Von vornherein ausgemustert.«
»Komm schon, beruhige dich.«
»Wie soll ich mich beruhigen? Vanzi hasst mich!«
»Der hasst dich nicht. Er ist ein ziemlicher Brummbär, aber das tut er für uns, damit wir erwachsen werden. Die Welt da draußen ist hart, da gibt es keine mildernden Umstände.«
»Mag sein … Aber es scheint mir schon schwierig genug, jeden Morgen aufzustehen und den Tag in Angriff zu nehmen. Ich will ja nicht jammern, aber in letzter Zeit meint es das Leben nicht gerade gut mit mir.«
»Sei nicht so pessimistisch. Das wird schon wieder, du wirst schon sehen.«
Ich halte den Mund, sonst streite ich mich auch noch mit ihr, dabei haben wir noch nicht mal die erste Stunde hinter uns.
44
E in weißes Zweifamilienhaus mit geschlossenen Fensterläden, an der Klingel steht Edoardos Nachname. Nur Mut, Scarlett! Ich frage mich zum wiederholten Male, ob es wohl richtig war, hierherzukommen, als mir eine Frau die Tür öffnet. Mahagonibraune Haare, gerötete Augen und ein trauriges, ein wenig erstauntes Lächeln.
»Ja?«
»Guten Tag, ich bin Scarlett, eine der Schülerinnen vom San-Carlo-Gymnasium. Ich habe Edoardo gekannt …« Ich hatte mir eine so schöne Rede zurechtgelegt, aber jetzt, wo ich hier bin, angesichts ihres Leids, weiß ich nicht, was ich sagen soll.
»Hallo, ich bin Daniela. Ich bin … war seine Frau. Danke für den Besuch, aber … leider weiß ich auch nicht mehr als in den Zeitungen stand.« Vielleicht hält sie mich für eine von diesen Neugierigen, die ihre Nase ständig in anderer Leute Angelegenheiten stecken. Ich zeige ihr den Strauß Kamelien, den ich auf dem Rückweg aus der Schule gepflückt habe. »Ihre Lieblingsblumen. Für Sie.«
Ihr Gesicht erhellt sich. »Komm rein, setz dich bitte.«
Ich folge ihr ein wenig verlegen. Innen herrscht ein drückendes Halbdunkel, durchtränkt von Tränen und Schmerz. Ein blondes Mädchen sitzt mit gequältem Gesicht auf einem Sofa. Sie steht auf, als sie mich eintreten sieht.
»Mama, ruf mich, wenn du mich brauchst, ich bin nebenan.« Sie mustert mich misstrauisch und geht.
»Entschuldigen Sie die Störung«, stammele ich.
»Er liebte Japanische Kamelien. ›Sie blühen trotz der Winterkälte und beleben die dunklen Ecken mit Farbe‹, hat mein Edoardo immer gesagt. Ich erinnere mich, dass er mit diesen Blumen mein Herz erobert hat.«
Ich lächele und tue
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