Scarpetta Factor
wäre es ihre Pflicht gewesen, zum Tower zu marschieren, mit dem Aufzug in die oberste Etage zu fahren und dem Kerl in Gegenwart all seiner Kollegen die Meinung zu sagen.
Während sie zusah, wie auf der Digitaluhr die Sekunden vergingen – sie mussten noch etwa fünfzig abwarten –, wuchsen ihre Angst und Wut. Sie würde den Namen dieses verdammten Fluglotsen in Erfahrung bringen und ihn sich vorknöpfen. Was hatte sie ihm und den anderen Mitarbeitern hier getan, außer sich respektvoll zu verhalten, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern, gute Trinkgelder zu geben und ihre Gebühren zu bezahlen? Noch einunddreißig Sekunden. Sie wusste nicht, wie er hieß. In der Luft war sie immer Profi, ganz gleich, wie unhöflich er auch mit ihr und den anderen Piloten umsprang. Gut, wenn er Ärger haben will, kann er ihn kriegen. Verdammt! Der Mann ahnte nicht, mit wem er sich angelegt hatte.
Als Lucy den Tower anfunkte, antwortete derselbe Fluglotse. »Nennen Sie mir die Telefonnummer Ihres Vorgesetzten«, sagte Lucy.
Er gab sie ihr, weil ihm laut Vorschrift der Flugaufsichtsbehörde nichts anderes übrigblieb. Lucy notierte sie sich auf das Schreibbrett, das auf ihrem Schoß lag. Jetzt würde sie ihn erst einmal eine Weile schmoren lassen. Dann funkte sie die Flugplatzverwaltung an und bat darum, ihren Wagen vorzufahren und ihren Helikopter in den Hangar zu rollen. Dabei fragte sie sich, ob ein Schaden an ihrem Ferrari wohl die nächste unliebsame Überraschung sein würde. Vielleicht hatte der Fluglotse sich ja auch darum gekümmert. Sie stellte den Motor ab und brachte das Warnsignal zum Verstummen. Danach nahm sie den Kopfhörer ab und hängte ihn an einen Haken.
»Ich steige aus«, ließ sich Berger in dem dunklen, stinkenden Cockpit vernehmen. »Du hast es nicht nötig, dich mit solchen Leuten herumzustreiten.«
Lucy zog die Rotorbremse an. »Gedulde dich, bis sich der Rotor nicht mehr dreht. Und vergiss beim Aussteigen nicht, dass wir auf einem Karren und nicht auf dem Boden sind. Nur noch ein paar Sekunden.«
Während Lucy alle Systeme abschaltete, öffnete Berger ihren Vier-Punkte-Sicherheitsgurt. Sie kletterten aus der Maschine, Lucy nahm das Gepäck und schloss ab. Ohne auf sie zu warten, marschierte Berger auf das Verwaltungsgebäude zu. Sie ging schnell, schlängelte sich zwischen Haltetauen durch und wich einem Tankwagen aus. Ihre schlanke Gestalt in dem langen Nerzmantel wurde kleiner und war bald verschwunden. Lucy wusste, was nun geschehen würde. Berger würde auf die Damentoilette hasten, vier Kopfschmerztabletten Marke Advil oder eine Zomig nehmen und sich das Gesicht mit kaltem Wasser erfrischen. Unter anderen Umständen wäre sie nicht sofort ins Auto gestiegen, sondern hätte sich Zeit gelassen, sich zu erholen und frische Luft zu schnappen. Aber sie hatten diese Zeit nicht.
Wenn sie nicht bis zwei Uhr morgens in Lucys Loft waren, würde Hap Judd es mit der Angst zu tun bekommen, sich aus dem Staub machen und sich nie wieder bei Berger melden. Er gehörte zu den Leuten, die keine Begründung akzeptierten und hinter allem einen faulen Trick vermuteten. Sicher würde er glauben, dass er hereingelegt werden sollte und dass gleich um die Ecke Paparazzi lauerten. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche, denn der Mann litt an schwerem Verfolgungswahn. Er würde sie abwimmeln und sich einen Anwalt nehmen. Und selbst der dümmste Anwalt würde ihm raten, den Mund zu halten, was hieß, dass sie ihren vielversprechendsten Zeugen los waren. Dann würde Hannah Starr für immer verschwunden bleiben, obwohl sie es verdient hatte, gefunden zu werden – wenn auch nicht um ihrer selbst willen, sondern damit Recht und Gesetz Genüge getan wurde. Hannah an sich hatte überhaupt nichts verdient, da sie ihre Mitmenschen nur ausnutzte. Das Ganze war ein schlechter Scherz, und weil die Öffentlichkeit die Hintergründe nicht kannte, war die ganze Welt in Sorge um sie.
Lucy teilte diese Gefühle zwar nicht, war sich ihrer wahren Empfindungen für sie jedoch erst vor drei Wochen bewusst geworden. Als Hannah als vermisst gemeldet worden war, war Lucy schon darüber im Bilde gewesen, welchen Schaden diese Frau anrichten konnte beziehungsweise bereits angerichtet hatte. Sie hätte nur nie den Verdacht geschöpft, dass Vorsatz dahintersteckte, sondern hatte es auf Pech, den Markt, die Wirtschaftskrise, den gedankenlosen Rat einer oberflächlichen Person oder einen Gefallen, der nicht ungestraft geblieben
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