Scarpetta Factor
dürfen, die forensische Computeranalyse im Fall Hannah Starr zu übernehmen. Nun war der Zeitpunkt zum Aussteigen eindeutig gekommen, doch sie würde es nicht tun, denn sie wusste genau, was Hannah, und zwar aus reinem Mutwillen, angerichtet hatte. Deshalb war Lucy genau die richtige Person, um sich dieses absurden Theaters anzunehmen. Sie hatte nämlich ihre eigenen Erfahrungen mit Hannah Starr und gar nicht geahnt, wie unangenehm sie waren, bis sie begonnen hatte, die Dateien und E-Mail-Accounts dieser arroganten, verwöhnten Zicke zu durchsuchen und wiederherzustellen. Tage hatte sie mit den E-Mails zubracht, die ihr geliebter Ehemann Bobby ihr schickte. Je mehr Einzelheiten Lucy entdeckte, desto größer wurden ihre Verachtung und ihre Wut. Sie würde jetzt nicht das Handtuch werfen, und niemand konnte sie dazu zwingen.
Sie schwebte über der gelben Begrenzungslinie und hörte zu, wie der Fluglotse den bedauernswerten Piloten einer Hawker kreuz und quer über den Flugplatz hetzte. Was war nur los mit den Leuten? Seit sich die Wirtschaft im freien Fall befand, schien die Welt kopfzustehen. Eigentlich hatte Lucy erwartet, dass die Menschen sich, wie nach dem 11. September, besser benehmen würden. In Angstsituationen drehte sich doch normalerweise alles ums Überleben. Und wer höflich blieb, anstatt seine Zeitgenossen nach Kräften gegen sich aufzubringen, erhöhte seine Überlebenschancen beträchtlich, sofern aggressives Verhalten keine unmittelbaren Vorteile versprach. Dieser Idiot von einem Fluglotsen hatte rein gar nichts davon, dass er Lucy und die anderen Piloten schikanierte. Der verdammte Feigling tat es einfach, weil er oben im Tower saß, wo niemand ihn sehen konnte. Lucy war versucht, ihn zur Rede zu stellen. Sie würde einfach zum Tower marschieren und an der verschlossenen Tür läuten. Jemand würde sie sicher hereinlassen. Schließlich wussten die Leute im Tower, wer sie war. Herr im Himmel , sagte sie sich. Beruhige dich . Für eine solche Aktion fehlte ihr nämlich schlichtweg die Zeit.
Nach der Landung würde sie nicht auftanken. Lucy hatte nicht vor, auf den Tankwagen zu warten, denn es würde sicher eine Ewigkeit dauern, bis er eintrudelte. Sie würde einfach den Hubschrauber abschließen, zum Auto laufen und so schnell wie möglich nach Manhattan fahren. Falls nichts dazwischenkam, würden sie um halb zwei in ihrem Loft in Greenwich Village sein. Das war knapp für eine um zwei Uhr angesetzte Vernehmung, eine Chance, die sich nie wieder ergeben würde. Vielleicht würde dieses Gespräch sie zu Hannah Starr führen, deren Verschwinden der Öffentlichkeit seit dem Tag vor Thanksgiving ein wohliges Gruseln bescherte. Angeblich hatte man an diesem Tag beobachtet, wie sie in der Barrow Street in ein gelbes Taxi stieg. Interessanterweise nur wenige Häuserblocks von Lucys Wohnung entfernt, worauf Berger sie mehr als einmal hingewiesen hatte. »Und du warst an diesem Abend zu Hause. Jammerschade, dass du nichts gesehen hast.«
»Helikopter Niner-Lima-Foxtrot«, meldete sich der Fluglotse über Funk. »Sie können jetzt zur Rampe weiterfliegen. Die Landung erfolgt auf eigene Gefahr. Falls Ihnen der Flugplatz nicht vertraut ist, müssen Sie uns informieren.«
»Niner-Lima-Foxtrot«, erwiderte Lucy in dem sachlichen Tonfall, den sie auch anschlug, bevor sie jemanden tötete oder zumindest damit drohte, und flog langsam los.
Sie schwebte zum Ende der Rampe und setzte auf ihrem Karren auf. Er stand zwischen einem Robinson-Helikopter, der sie an eine Libelle erinnerte, und einer Gulfstream, bei deren Anblick sie an Hannah Starr denken musste. Der Wind erfasste das Heck, und Abgase drangen in die Kabine.
»Nicht vertraut?« Lucy schob das Steuerhorn in den Leerlauf und schaltete das leise Warnsignal des Umdrehungsmessers ab. »Ich soll mit diesem Flugplatz nicht vertraut sein? Hast du das gehört? Der Typ will mich als miserable Pilotin hinstellen.«
Berger schwieg. Es stank kräftig nach Abgasen.
»Das tut er jedes Mal.« Lucy streckte die Hand aus, um die Schalter über ihrem Kopf zu bedienen. »Entschuldige die Abgase. Ist alles okay? Halte noch ein, zwei Minuten aus. Es tut mir wirklich leid.« Sie musste diesen Fluglotsen zur Rede stellen. So etwas durfte sie ihm nicht durchgehen lassen.
Berger nahm den Kopfhörer ab, öffnete das Fenster auf ihrer Seite und streckte den Kopf so weit wie möglich hinaus.
»Wenn du das Fenster aufmachst, wird es noch schlimmer«, warnte Lucy sie. Eigentlich
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