Scarpetta Factor
hatte er im Real Time Crime Center stets Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, weil zu viele Eindrücke gleichzeitig auf ihn einstürmten, während Reize von außen gänzlich fehlten. Die Wände waren zwar mit Bildschirmen bedeckt, aber es gab keine Fenster, lediglich blaue schallisolierende Paneele, in geschwungenen Reihen angeordnete Computerarbeitsplätze mit jeweils zwei Monitoren darauf und einen grauen Teppich.
Nur wenn im angrenzenden Konferenzsaal, anders als jetzt, die Jalousien hochgezogen waren, konnte Marino sich orientieren. Die Brooklyn Bridge, die Downtown Presbyterian, Pace Union, das alte Woolworth-Gebäude. Es war das New York, an das er sich erinnerte, als er beim NYPD angefangen hatte. Damals war er ein Niemand aus Bayonne gewesen, der die Boxhandschuhe an den Nagel gehängt hatte. Er hatte aufgehört, seine Mitmenschen zu vermöbeln, und wollte ihnen stattdessen helfen. Warum, wusste er auch nicht so genau. Ebenso wenig konnte er sich erklären, weshalb er in den frühen Achtzigern New York den Rücken gekehrt hatte und in Richmond, Virginia, gelandet war. In jener Zeit war es ihm erschienen, als sei er eines Tages einfach als Star-Detective in der ehemaligen Hauptstadt der Konföderierten aufgewacht. Die Lebenshaltungskosten. Eine familiengerechte Stadt. Genau, was Doris sich gewünscht hatte. Vermutlich war das die Antwort.
Was für ein gottverdammter Irrtum! Rocco, ihr einziges Kind, war von zu Hause weggelaufen, hatte beim organisierten Verbrechen mitgemischt und war nun tot. Doris war mit einem Autoverkäufer durchgebrannt und für Marino ebenfalls gestorben. Während Marinos Dienstzeit in Richmond hatte die Stadt die höchste Mordrate pro Kopf der Bevölkerung in den gesamten Vereinigten Staaten aufgewiesen. Die von Drogendealern frequentierte Raststätte an der I-95, die New York mit Miami verband, diente als Umschlagplatz für schmutzige Ware, da es in Richmond genügend Kundschaft gab: sieben vom Bund geförderte Sozialwohnungsblocks, Plantagen und Sklaverei. Richmond war deshalb die optimale Stadt für Drogenhandel und Mord, weil die Polizeitruppe aus Dummköpfen bestand. Das hatte sich auf der Straße und entlang der Ostküste rasch herumgesprochen, was Marino damals schrecklich wurmte. Inzwischen kümmerte es ihn nicht mehr. Erstens war es sehr lange her, und zweitens brachte es nichts, Dinge persönlich zu nehmen, wenn sie nicht so gemeint waren. Das meiste im Leben war Zufall.
Mit zunehmendem Alter war es ihm immer schwerer gefallen, einen logischen Zusammenhang zwischen den Ereignissen in seinem Leben zu sehen oder Hinweise darauf zu entdecken, dass seine Entscheidungen oder das von ihm angerichtete Durcheinander auf so etwas wie Sorgfalt und Intelligenz beruhten. Hinzu kamen die Probleme mit denen, die seine Grenzen überschritten, insbesondere mit Frauen. Wie viele hatte er geliebt, verloren oder einfach nur gevögelt? An das erste Mal erinnerte er sich noch glasklar. Im Bear Mountain Park auf einem Bootssteg mit Blick auf den Hudson. Mit sechzehn. Allerdings hatte er keinen Überblick darüber, wie oft er zu betrunken gewesen war, um irgendetwas im Gedächtnis zu behalten. Computer betranken sich nicht, vergaßen und bereuten nichts und hatten keine Gefühle. Sie verknüpften alles miteinander, bis auf der Datenwand ein kausal vernetzter Baum entstand. Marino fürchtete sich vor seiner eigenen Datenwand. Er hatte Angst, dass sie keinen Sinn ergeben könnte und dass fast jeder Weg, den er je eingeschlagen hatte, falsch, abstrus, unvernünftig und planlos gewesen war. Er wollte lieber gar nicht wissen, wie viele Abzweigungen ins Leere führten oder mit Scarpetta zusammenhingen. In gewisser Weise war sie die Ikone im Zentrum seiner Bindungen und seiner Einsamkeit geworden. Sie verkörperte das, was gleichzeitig am meisten und am wenigsten Sinn ergab.
»Ich dachte immer, man könnte Abbildungen und Fotos miteinander abgleichen«, sagte Marino zu Petrowski, während er weiter den Selbstmordkandidaten auf dem Flachbildschirm beobachtete. »Zum Beispiel, wenn die Visage dieses Typen von FedEx in irgendeiner Datenbank gespeichert ist und man die Aufnahme seiner Gesichtszüge und der Tätowierung aus der Überwachungskamera hat.«
»Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Allerdings ist es meiner Ansicht nach so sicher wie das Amen in der Kirche, dass der Kerl nicht bei FedEx arbeitet.«
»Es wäre doch trotzdem möglich, eine Suchanfrage zu starten und die Bilder zu
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