Scarpetta Factor
denken, an South Carolina und an die schwärzeste Phase seines Lebens. Damals hatte er sterben wollen. Er hätte den Tod auch verdient gehabt. Noch immer war er nicht hundertprozentig sicher, warum er nicht Schluss gemacht hatte. Warum war er nicht wie dieser arme Teufel auf der George Washington Bridge im Fernsehen gelandet? Marino malte sich Polizisten, Feuerwehrleute und Taucher aus, die seinen Pick-up aus dem Cooper River zogen. Mit ihm darin. Ein scheußlicher Anblick und absolut unfair gegenüber seinen Mitmenschen. Aber die Verzweiflung raubte einem den Verstand, sodass einem die Gerechtigkeit den Buckel runterrutschen konnte. Wasserleichen waren das Allerschlimmste. Die Gase trieben sie auf, verfärbten sie grün, ließen ihnen die Augen aus den Höhlen treten wie bei einem Frosch. Lippen, Ohren und vielleicht sogar der Schwanz wurden von Krabben und Fischen angeknabbert.
Die schwerste aller Strafen wäre gewesen, so widerlich auszusehen und derart zu stinken, dass es den Leuten den Magen umdrehte, das nackte Grauen auf dem Autopsietisch von Doc Scarpetta. Denn er wäre ihr Fall gewesen. Ihre Praxis in Georgetown war damals nämlich die einzige in der Stadt. Sie hätte ihn obduziert. Niemals hätte sie ihn Hunderte Kilometer weit zu einem anderen Gerichtsmediziner bringen lassen. Sie hätte sich um ihn gekümmert, davon war Marino überzeugt. Er hatte miterlebt, wie sie Menschen, die sie gekannt hatte, obduzierte. Dann breitete sie ihnen aus Respekt ein Handtuch übers Gesicht und bedeckte ihre nackte Leiche so gut wie möglich mit einem Laken. Weil sie wusste, dass sie die Einzige war, die ihnen diesen letzten Dienst erweisen würde.
»... so ungewöhnlich ist sie nun auch wieder nicht. Außerdem haben wir sie vermutlich nicht in der Datenbank«, sagte Petrowski.
»Wovon reden Sie?«
»Von der Tätowierung. Und was die Personenbeschreibung des Burschen angeht, trifft sie vermutlich auf die halbe Stadt zu«, sprach Petrowski weiter. Er verhielt sich, als handelte es sich bei dem Selbstmordkandidaten auf dem Flachbildschirm um die Wiederholung eines alten Films, der es nicht wert war, dass man auch nur den Kopf hob. »Schwarz, männlich, zwischen fünfundzwanzig und fünfundvierzig Jahre alt, zwischen eins fünfundsiebzig und eins fünfundachtzig groß. Keine Telefonnummer, keine Adresse, kein Autokennzeichen, nichts, wonach man suchen könnte. Im Moment bin ich ziemlich ratlos.« Er klang, als ob Marino sich den Weg in den siebten Stock des Gebäudes One Police Plaza hätte sparen können, ja, als ob er einen Analysten des Real Time Crime Center mit seinem banalen Anliegen nur belästigte.
Zugegeben, Marino hätte zuerst anrufen und fragen sollen. Doch es brachte meist mehr, einfach mit der CD in der Hand aufzukreuzen. Wie seine Mutter immer zu sagen pflegte: »Den Fuß in die Tür, Pete, den Fuß in die Tür.«
Der Fuß des Selbstmordkandidaten rutschte von der Trosse, aber es gelang ihm, sich weiter festzuhalten.
»Hoppla!«, rief Marino in Richtung Flachbildschirm und überlegte, ob der Fuß des Mannes ausgeglitten war, weil er, Marino, das Wort Fuß gedacht hatte.
Petrowski schaute in dieselbe Richtung wie Marino. »Die klettern rauf und ändern dann ihre Meinung«, stellte er fest. »So was passiert immer wieder.«
»Warum tut man sich das an, wenn man sich wirklich vom Acker machen will? Und weshalb dann der Sinneswandel?« Allmählich empfand Marino Verachtung für den Selbstmordkandidaten und ärgerte sich über ihn. »In meinen Augen ist das alles bloß Theater. Spinner wie der da wollen sich nur in den Vordergrund drängen und ins Fernsehen kommen. Sie verlangen, für irgendetwas entschädigt zu werden. Da steckt mehr als nur Todessehnsucht dahinter.«
In der oberen Etage der Brücke staute sich selbst um diese Uhrzeit der Verkehr. Auf der Fahrbahn unmittelbar unter dem Selbstmordkandidaten hatte die Polizei einen Bereich abgesperrt und breitete einen Sprungsack aus. Ein Verhandlungsspezialist versuchte, dem Mann sein Vorhaben auszureden, während andere Polizisten den Turm hinaufstiegen, um in seine Nähe zu kommen. Alle riskierten ihr Leben für jemanden, dem es scheißegal war und der aus unbekannten Gründen fand, dass sich die Welt ins Knie ficken konnte. Da der Fernseher ohne Ton lief, konnte Marino nicht hören, was gesprochen wurde. Doch das war auch nicht nötig, denn es war nicht sein Fall und ging ihn nichts an, weshalb er sich auch nicht damit zu befassen brauchte. Allerdings
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