Scarpetta Factor
»Auf diese Idee bin ich gekommen, nachdem ich die GPS-Strecke nachvollzogen habe. Ich habe dir doch davon erzählt. Lucy kann, wenn sie will, jederzeit feststellen, wo wir anderen uns aufhalten. Und ich denke nicht, dass sie dich, mich oder Benton verfolgt. Es ist bestimmt kein Zufall, dass sie plötzlich beschlossen hat, uns diese Telefone zu schenken.«
Marino hatte die Hand am Türgriff und wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Seit Wochen schon verhielt sich Lucy seltsam, unruhig, aggressiv und ein wenig paranoid. Er hätte besser darauf achten und zu derselben Schlussfolgerung kommen sollen. Je länger die Theorie in dem dunklen, schmutzigen Wageninneren schwebte, desto plausibler erschien sie ihm. Nie wäre Marino auf den Gedanken gekommen, dass Lucy Berger nachspionierte, und zwar deshalb, weil er es nicht glauben wollte. Er brauchte keine Erinnerung daran, wozu Lucy in der Lage war, wenn sie sich unter Druck gesetzt oder einfach nur dazu berechtigt fühlte. Außerdem wollte er nicht daran denken, dass sie seinen Sohn Rocco auf dem Gewissen hatte. Rocco war von Kindheit an skrupellos gewesen und hatte sich einen Dreck für seine Mitmenschen interessiert. Wenn Lucy ihn nicht ausgeschaltet hätte, hätte es eben ein anderer getan. Und dennoch versuchte Marino, es zu verdrängen, so unerträglich war es für ihn.
»Jaime tut nur ihre Pflicht. Ich kann mir keinen Grund vorstellen, warum Lucy plötzlich an Paranoia leidet. Nicht auszudenken, was passiert, falls Jaime dahinterkommt ... nun, wenn es stimmt. Hoffentlich irren wir uns. Aber ich kenne Lucy und bin sicher, dass da etwas im Argen liegt, und zwar schon seit einiger Zeit. Dein Schweigen sagt mir, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist, um darüber zu reden«, sagte Scarpetta. »Also, wie knöpfen wir uns Carley vor?«
»Wenn jemand Tag und Nacht arbeitet, fällt das dem Partner irgendwann auf die Nerven, und er fängt an, sich anders zu verhalten«, erwiderte Marino. »Ich habe momentan dasselbe Problem mit Bacardi.«
»Verfolgst du sie deshalb mit einem GPS-Empfänger, eingebaut in ein Telefon, das du ihr geschenkt hast?«, entgegnete Scarpetta bedrückt.
»Da bin ich wie du, Doc. Ich war auch schon versucht, das neue Telefon in den See zu schmeißen«, antwortete er ernst und hatte Mitleid mit ihr. »Du weißt ja, wie miserabel ich schon auf einer normalen Tastatur tippe. Letztens wollte ich die Lautstärke ändern und habe stattdessen ein Foto von meinem verdammten Fuß gemacht.«
»Du würdest Bacardi nie mit GPS verfolgen, selbst wenn du sie im Verdacht hättest, eine Affäre zu haben. Wir beide tun so etwas nicht, Marino.«
»Nun, Lucy ist eben nicht so wie wir. Außerdem behaupte ich nicht, dass es wirklich stimmt.« Er konnte es zwar nicht mit Sicherheit sagen, war allerdings ziemlich überzeugt.
»Du arbeitest für Jaime. Ich frage dich nur ungern, ob es einen Grund ... « Sie beendete den Satz nicht.
»Es gibt keinen. Sie hat nichts angestellt«, erwiderte Marino. »Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Wenn sie herumvögeln würde oder eine Affäre hätte, wüsste ich das, das kannst du mir glauben. Und das liegt, wie ich dir versichere, bestimmt nicht an mangelnden Gelegenheiten. Hoffentlich stellt sich heraus, dass Lucy ihr nicht nachspioniert. Jaime würde ihr das nie verzeihen.«
»Könntest du es ihr verzeihen?«
»Nein, verdammt! Falls du ein Problem mit mir hast, raus mit der Sprache. Wenn du mich verdächtigst, sprich es aus. Aber schenk mir kein schickes Telefon, damit du mich überwachen kannst. Das ist ein schwerer Vertrauensbruch.«
»Dann wollen wir hoffen, dass wir uns irren«, entgegnete sie. »Und wie gehen wir jetzt vor?« Sie meinte Carley.
Sie stiegen aus.
»Ich zeige am Empfang meine Dienstmarke vor und lasse mir ihre Zimmernummer geben«, sagte Marino. »Danach statten wir ihr einen kleinen Besuch ab. Hau ihr bloß keine runter. Ich will dich nicht wegen Körperverletzung festnehmen müssen.«
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie große Lust ich dazu hätte«, antwortete Scarpetta.
16
In Zimmer 412 rührte sich nichts. Marino hämmerte mit seiner gewaltigen Faust gegen die Tür und rief Carley Crispins Namen.
»Polizei!«, sagte er laut. »Aufmachen!«
Er und Scarpetta standen lauschend auf dem langen, eleganten Flur, der mit Wandleuchten aus Kristall und einem braungelb gemusterten Teppich, offenbar von Bijar, ausgestattet war.
»Ich höre den Fernseher«, stellte Marino fest und klopfte
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