Scarpetta Factor
der Herr, mit dem sie befreundet ist, wird nur ungern gestört.«
Das war eine neue Information und genau das, was Scarpetta beschäftigt hatte. »Wissen Sie, wie der Herr heißt oder wo er sein könnte?«, erkundigte sie sich.
»Ich fürchte, nein. Wegen meiner Arbeitszeiten habe ich ihn noch nie getroffen.«
»Ist es ein älterer Herr mit grauem Haar und Bart?«
»Da ich ihn noch nie getroffen habe, kann ich auch nicht sagen, wie er aussieht. Allerdings ist mir zu Ohren gekommen, dass er oft Gast in ihrer Sendung ist. Seinen Namen kenne ich nicht und weiß von ihm nur, dass er sehr zurückgezogen lebt. Eigentlich dürfte ich es nicht aussprechen, doch er ist offenbar ein wenig schrullig. Wechselt kein Wort mit jemandem. Er geht Lebensmittel einkaufen und stellt Mülltüten vor die Tür. Nie ordert er etwas beim Zimmerservice und möchte auch nicht, dass sein Zimmer geputzt wird. Ist denn niemand da?« Immer wieder wanderte sein Blick zum Türspalt von Zimmer 412.
»Dr. Agee«, merkte Scarpetta an. »Der forensische Psychiater Warner Agee. Er tritt häufig in Carley Crispins Sendung auf.«
»Die schaue ich mir nie an.«
»Er ist der einzige häufige halbtaube Gast mit grauem Haar und Bart, der mir einfällt.«
»Keine Ahnung. Ich weiß nur das, was ich Ihnen gerade erzählt habe. Wir haben viele wichtige Leute hier und stecken unsere Nase nicht in ihr Privatleben. Die einzige Unannehmlichkeit, die der Mann, der dieses Zimmer bewohnt, uns verursacht, ist der Lärm. Gestern Abend zum Beispiel haben sich einige andere Gäste wieder einmal über seinen Fernseher beschwert. Das konnte ich einigen Nachrichten entnehmen, die für mich hinterlassen wurden. Ein paar Gäste hatten früher am Abend die Rezeption angerufen und sich über den Radau beklagt.«
»Wie wie viel Uhr war das?«, hakte Scarpetta nach. »Gegen halb neun, Viertel vor neun.«
Um diese Zeit war sie bei CNN gewesen. Carley ebenfalls. Währenddessen hatte Warner Agee in seinem Zimmer gesessen und so laut ferngesehen, dass sich seine Zimmernachbarn gestört gefühlt hatten. Als Scarpetta und Marino vor wenigen Minuten das Zimmer betreten hatten, war immer noch CNN gelaufen. Allerdings hatte jemand die Lautstärke gesenkt. Sie malte sich aus, wie Agee auf dem zerwühlten Bett kauerte und sich den Crispin Report ansah. Wenn es nach halb oder Viertel vor neun keine Beschwerden mehr gegeben hatte, obwohl der Fernseher an war, hieß das, dass er ihn leiser gemacht haben musste. Sicher hatte er die Hörgeräte eingesetzt. Und was war dann geschehen? Hatte er sie wieder abgenommen, sich Kopfhaar und Bart abrasiert und anschließend das Zimmer verlassen?
»Falls jemand anruft und Carley Crispin sprechen möchte, könnten Sie nicht auf Anhieb sagen, ob sie da ist«, wandte Scarpetta sich an Curtis. »Nur, dass sie sich unter ihrem eigenen Namen als Gast eingetragen hat, was jeder, der an der Rezeption arbeitet, am Computer nachprüfen kann. Sie mietet ein Zimmer unter ihrem Namen, das jedoch von einem Freund bewohnt wird. Vermutlich handelt es sich um Dr. Agee. Ich will mich nur vergewissern, ob ich alles richtig verstanden habe.«
»Das ist korrekt, wenn wir davon ausgehen, dass Sie, was ihren Freund betrifft, recht haben.«
»Wer bezahlt für das Zimmer?«
»Ich sollte wirklich nicht ...«
»Der Mann, der das Zimmer bewohnt, Dr. Agee, ist nicht da. Ich mache mir Sorgen«, entgegnete Scarpetta. »Und zwar aus einer Reihe von Gründen. Ich fürchte das Schlimmste. Haben Sie wirklich keine Ahnung, wo er sein könnte? Er ist hörbehindert und hat offenbar seine Hörgeräte nicht bei sich.«
»Nein, ich habe nicht bemerkt, dass er weggegangen ist. Die Sache ist mir sehr unangenehm. Vermutlich sind die Hörgeräte die Erklärung dafür, dass er hin und wieder so laut ferngesehen hat.«
»Er hätte die Treppe nehmen können.«
Der Nachtportier blickte den Flur entlang, an dessen Ende das rote Schild mit der Aufschrift Ausgang leuchtete. »Eine unschöne Geschichte. Was suchen Sie eigentlich da drin?« Wieder schaute er auf die Tür von Zimmer 412.
Scarpetta hatte nicht vor, ihm diese Frage zu beantworten. Wenn Lucy mit dem Durchsuchungsbeschluss erschien, würde er eine Kopie erhalten, die seine Neugier befriedigte.
»Die Treppe gab ihm die Möglichkeit, unbeobachtet zu verschwinden«, fuhr Scarpetta fort. »Die Pförtner stehen spätnachts nicht auf dem Gehweg herum, insbesondere nicht in dieser Kälte. Wer bezahlt für das Zimmer?«, wiederholte
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