Scarpetta Factor
will nicht bewertet werden.« Dr. Clark blickte aus dem Fenster hinter Bentons Kopf, als gäbe es dort mehr zu sehen als eine Krankenhausmauer aus beigen Backsteinen und die anbrechende Dunkelheit. »Welche Medikamente?«
»Vermutlich nimmt sie inzwischen gar nichts mehr. Sie ist nicht gerade kooperationsfreudig und interessiert sich nur für Substanzen, die positive Gefühle in ihr auslösen. Alkohol zum Beispiel. Im Krankenhaus haben wir ihr Risperdal verordnet.«
»Das tardive Dyskinesie, also Bewegungsstörungen, auslösen kann. Kommt aber selten vor«, entgegnete Dr. Clark.
»Sie litt weder an Muskelkrämpfen noch an Zuckungen, mit Ausnahme derer, die sie vorgetäuscht hat«, antwortete Benton. »Natürlich behauptet sie, sie hätte dauerhafte Schäden davongetragen.«
»Theoretisch sind solche irreversiblen Nebenwirkungen bei Risperdal möglich, insbesondere bei älteren Frauen.«
»Doch in ihrem Fall war alles nur Theater, Schwachsinn. Sie führt etwas im Schilde«, beharrte Benton. »Zum Glück habe ich auf meine innere Stimme gehört und verlangt, dass alle meine Sitzungen mit ihr auf Video aufgezeichnet wurden.«
»Und was hat sie dazu gesagt?«
»Sie hat sich je nach Rolle und Stimmung verkleidet – Verführerin, Heilsarmee oder Hexe.«
»Fürchten Sie, sie könnte gewalttätig werden?«, erkundigte sich Dr. Clark.
»Sie beschäftigt sich gedanklich viel mit Gewalt und beharrt, sie habe Erinnerungen an Missbrauch durch eine satanische Sekte wiederentdeckt. Ihr Vater habe Kinder auf Steinaltären geopfert und Geschlechtsverkehr mit ihr gehabt. Nichts weist darauf hin, dass etwas dergleichen tatsächlich vorgefallen ist.«
»Und wie könnte so ein Hinweis aussehen?«
Benton schwieg. Es war ihm nicht erlaubt zu überprüfen, ob seine Patienten auch wirklich die Wahrheit sagten, und gegen sie zu ermitteln. Sein eigenes Verhalten stieß ihn ab. Die Grenzen verschwammen.
»Schreibt nicht gern, hat aber einen Hang zum Dramatischen«, meinte Dr. Clark und musterte ihn eindringlich.
»Drama ist der gemeinsame Nenner«, erwiderte Benton und wusste, dass Dr. Clark auf dem richtigen Weg war.
Er ahnte, was Benton getan hatte – oder dass es zumindest einen Zwischenfall gegeben haben musste. Benton schoss durch den Kopf, dass er das Gespräch über Dodie möglicherweise als Vorwand benutzte, weil er das Bedürfnis hatte, über sich selbst zu reden.
»Eine unstillbare Gier, sich in den Vordergrund zu drängen. Außerdem leidet sie schon seit vielen Jahren an Schlafstörungen«, fuhr Benton fort. »Sie wurde im McLean im Schlaflabor untersucht und hat in der Vergangenheit an verschiedenen Aktigraphie-Studien teilgenommen. Offenbar liegt bei ihr eine Störung des Tag-und-Nacht-Rhythmus vor, die zu chronischer Schlaflosigkeit führt. Je schlimmer sie wird, desto mehr leiden ihre Urteilsfähigkeit und Einsicht, und ihr Leben wird immer chaotischer. Allerdings ist sie außergewöhnlich gebildet und intellektuell hochbegabt.«
»Hat das Risperdal etwas bewirkt?«
»Ihre Stimmungsschwankungen ließen nach, sie war nicht so hypomanisch und meinte, sie schliefe jetzt besser.«
»Wenn sie das Medikament abgesetzt hat, wird sich ihr Zustand verschlechtern. Wie alt ist sie?«, fragte Dr. Clark. »Sechsundfünfzig.«
»Bipolar? Schizophren?«
»In diesem Fall wäre die Behandlung einfacher gewesen. Persönlichkeitsstörung Achse zwei, theatralisch mit Tendenzen von Borderline und gesellschaftsfeindlichem Verhalten.«
»Reizend. Und warum hat sie Risperdal bekommen?«
»Bei ihrer Einlieferung letzten Monat schien sie an Wahnvorstellungen und einer verzerrten Wahrnehmung der Realität zu leiden, doch in Wirklichkeit ist sie eine pathologische Lügnerin.« In knappen Worten schilderte Benton Dodies Festnahme in Detroit.
»Könnte sie Ihnen möglicherweise vorwerfen, Sie hätten ihre Bürgerrechte verletzt? Was, wenn sie behauptet, sie sei gegen ihren Willen stationär behandelt und gezwungen worden, ein Medikament zu nehmen, das ihr dauerhafte Schädigungen zugefügt hat?«, meinte Dr. Clark.
»Sie hat eine Erklärung unterschrieben, dass sie freiwillig hier sei, und wurde über ihre Bürgerrechte und ihr Recht auf einen Anwalt aufgeklärt. Das Übliche eben. Im Moment ist meine Sorge nicht, dass sie mich verklagen könnte, Nathan.« »Vermutlich tragen Sie die Untersuchungshandschuhe nicht, weil Sie Angst haben, sie könnte Sie vor den Kadi zerren.« Benton verstaute die Karte und den Umschlag von FedEx wieder
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