Scarpetta Factor
übertriebene oder unwahre Behauptungen aufstellt.«
»Haben Sie den Eintrag über ihn in der Wikipedia gelesen?«, fragte Dr. Clark. »Er wird als einer der Gründerväter des Profiling und als Ihr Mentor bezeichnet. Weiterhin steht dort, Sie hätten während Ihrer Zeit als Leiter der Abteilung für Verhaltensforschung beim FBI eine – ich zitiere – ehebrecherische Beziehung mit Kay Scarpetta begonnen. Er habe in einigen berühmten Fällen mit ihr zusammengearbeitet. Stimmt das? Hat er je gemeinsam mit Kay ermittelt? Soweit ich informiert bin, war Warner niemals Profiler beim FBI oder anderswo.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass Sie die Wikipedia als zuverlässige Quelle betrachten«, entgegnete Benton, als zeichne Dr. Clark persönlich für diese Lügen verantwortlich.
»Ich habe nur einen Blick hineingeworfen, da die anonymen Schreiberlinge, die angebliche Tatsachen in Internetlexika und andere Foren stellen, häufig ein starkes und nicht gerade vorurteilsfreies Interesse an der Person haben, über die sie sogenannte Informationen verbreiten«, entgegnete Dr. Clark. »Interessanterweise ist seine Biographie in den letzten Wochen gründlich überarbeitet und erweitert worden. Die Frage ist nur, von wem?«
»Vielleicht von der Person, um die es hier geht.« Vor Hass und Wut krampfte es Benton den Magen zusammen.
»Ich halte es durchaus für vorstellbar, dass Lucy es herausfinden könnte oder bereits weiß und bereit wäre, diese Fehlinformationen zu beseitigen«, meinte Dr. Clark. »Aber möglicherweise ist sie, anders als ich, nicht darauf gekommen, gewisse Einzelheiten zu überprüfen, weil Sie ihr etwas über Ihre Vergangenheit verschwiegen haben. Eine gewisse Sache, die Sie bereit waren mir anzuvertrauen.«
»Lucy hat wirklich Besseres zu tun, als ihre Zeit mit geistig beschränkten Mitmenschen zu vergeuden, die sich unbedingt in den Vordergrund drängen wollen. Sie hat es nicht nötig, ihre forensischen Computerprogramme gegen Klatsch im Internet einzusetzen. Übrigens haben Sie recht. Ich habe ihr, anders als Ihnen, nicht die ganze Wahrheit gesagt.« Benton konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal so bedroht gefühlt hatte.
»Wenn Sie mich heute Nachmittag nicht angerufen hätten, hätte ich mir sicher bald einen Vorwand einfallen lassen, um mit Ihnen zu sprechen, damit die Karten endlich auf dem Tisch sind«, verkündete Dr. Clark. »Sie haben allen Grund, Warner Agee fertigzumachen. Und ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass Sie dieses Bedürfnis in den Griff bekommen.«
»Ich verstehe nicht ganz, was das mit unserem Thema zu tun hat, Nathan.«
»Alles hängt miteinander zusammen, Benton.« Dr. Clark beobachtete ihn forschend. »Aber wir wollen weiter über Ihre ehemalige Patientin Dodie Hodge reden, denn ich habe den Eindruck, dass sie auch damit zu tun hat. Einige Dinge erscheinen mir merkwürdig. Das Erste ist die Karte selbst, diese offensichtliche Darstellung von häuslicher Gewalt. Ein Mann beleidigt seine Frau, indem er sie als Nutte bezeichnet. Eine Frau verfolgt ihren Mann, um ihm eins mit dem Nudelholz überzubraten. Die sexuellen Anspielungen. Das ist alles andere als witzig. Was will sie Ihnen damit mitteilen?«
»Projektion.« Es kostete Benton alle Willenskraft, seine Wut auf Warner Agee aus dem Raum zu verscheuchen. »Sie projiziert nur«, hörte er sich mit ruhiger Stimme sagen.
»Also gut. Und was projiziert sie Ihrer Ansicht nach? Wer ist der Weihnachtsmann? Wer ist Mrs. Weihnachtsmann?«
»Ich bin der Weihnachtsmann«, erwiderte Benton. Die Wutwelle wurde flacher. Sie war ihm so gewaltig wie ein Tsunami erschienen, doch nun zog sie sich zurück und war schon beinahe verschwunden. »Mrs. Weihnachtsmann ist böse auf mich, weil ich mich in ihren Augen unfreundlich oder herabwürdigend verhalten habe. Ich, der Weihnachtsmann, habe ›Ho, ho, ho‹ gerufen, und Mrs. Weihnachtsmann hat es so verstanden, als hätte ich sie eine Hure genannt.«
»Dodie Hodge ist überzeugt, dass man sie fälschlich beschuldigt, erniedrigt, unterschätzt und nicht ernst nimmt. Gleichzeitig weiß sie, dass diese Wahrnehmung nicht stimmt«, erklärte Dr. Clark. »Darin zeigt sich die theatralische Persönlichkeitsstörung. Die offensichtliche Botschaft der Karte ist, dass der arme Weihnachtsmann eine ordentliche Abreibung bekommen wird, weil Mrs. Weihnachtsmann ihn so tragisch missverstanden hat. Dodie findet das anscheinend witzig, sonst hätte sie diese Karte nicht
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