Scarpetta Factor
ausgesucht.«
»Vorausgesetzt, dass sie sie wirklich selbst ausgesucht hat.« »Ständig spielen Sie darauf an, sie könnte einen Helfershelfer, einen Komplizen, gehabt haben.«
»Das liegt an der praktischen Umsetzung«, entgegnete Benton. »Man muss sich mit Aufnahmegeräten auskennen, eines bestellen und das verdammte Ding dann zusammenbauen. Dodie hingegen ist impulsiv und nicht in der Lage, auf die Belohnung zu warten. Der zur Umsetzung eines solchen Plans notwendige Grad an Berechnung passt nicht zu ihrem Verhalten, wie ich es im Krankenhaus erlebt habe. Und wann hätte sie die Zeit dazu haben sollen? Wie bereits gesagt, wurde sie erst am vergangenen Sonntag entlassen. Das Päckchen von FedEx wurde gestern, also am Mittwoch, versendet. Woher wusste sie, dass sie es hierher schicken musste? Außerdem sieht die handgeschriebene Adresse auf dem FedEx-Aufkleber seltsam aus. Da ist doch etwas faul.«
»Sie liebt das Dramatische, und die singende Karte ist dramatisch. Finden Sie nicht, dass einem Menschen mit theatralischen Neigungen so etwas zuzutrauen ist?«
»Sie haben mich selbst darauf hingewiesen, dass Dodie gar keine Gelegenheit hatte, Zeugin des Dramas zu werden«, wandte Benton ein. »Ohne Zuschauer macht Theaterspielen keinen Spaß. Sie hat nicht miterlebt, wie ich die Karte öffnete, ja, sie weiß nicht einmal, ob ich sie überhaupt erhalten habe. Warum hat sie sie mir nicht persönlich bei ihrer Entlassung überreicht?«
»Also hat jemand sie dazu angestiftet. Ein Komplize.«
»Der Text macht mir ebenfalls zu schaffen«, gab Benton zu. »Welcher Teil?«
»Steckt euch den Mistelzweig dort rein, wo er hingehört, und hängt einen Engel an den Baum«, antwortete Benton. »Wer ist der Engel?«
»Das müssen Sie mir schon verraten.«
»Es könnte Kay sein.« Dr. Clark hielt seinem Blick stand. »Und mit dem Baum spielt sie möglicherweise auf Ihren Penis an, auf Ihre sexuelle Beziehung zu Ihrer Frau.«
»Oder auf Erhängen«, sagte Benton.
4
Der Chief Medical Examiner von New York City beugte sich gerade über ein Mikroskop, als Scarpetta leise an seine offene Tür klopfte.
»Sie wissen ja, was passiert, wenn Sie bei einer Dienstbesprechung fehlen, oder?«, meinte Dr. Edison, ohne aufzublicken, und legte einen neuen Objektträger ein. »Man redet über Sie.«
»Ich will es lieber gar nicht wissen.« Scarpetta betrat das Büro und setzte sich auf einen geschwungenen Stuhl aus Ulmenholz, der vor dem Schreibtisch seines Stellvertreters stand.
»Nun, ich werde es mal ein wenig einschränken. Bei der Debatte ging es nicht um Sie an sich.« Er drehte sich zu ihr um. Sein weißes Haar sträubte sich, und seine scharfen Augen musterten sie so aufmerksam wie die eines Falken. »Sie waren eher am Rande das Thema. Hauptsächlich wurde über CNN, TLC, Discovery und alle anderen Kabelsender unter der Sonne gesprochen. Wissen Sie, wie viele Anrufe wir täglich kriegen?«
»Ich bin sicher, dass Sie dafür eine eigene Sekretärin einstellen könnten.«
»Und das, obwohl wir in Wirklichkeit gezwungen sind, Mitarbeitern wie Assistenten und Technikern zu kündigen. Wir haben sogar die Gebäudereinigung und den Sicherheitsdienst einschränken müssen«, fuhr er fort. »Der Himmel weiß, wo das noch enden wird, wenn der Staat seine Drohung wahr macht und unseren Haushalt um weitere dreißig Prozent kürzt. Wir sind hier doch nicht in der Unterhaltungsbranche. Das will ich nicht, und ich kann es mir nicht leisten.«
»Es tut mir leid, wenn Sie meinetwegen Schwierigkeiten haben, Brian.«
Dr. Edison war der vermutlich beste Forensiker, den Scarpetta je persönlich kennengelernt hatte. Seine Mission stand fest – auch wenn sie sich ein wenig von ihrer unterschied –, und es gab für ihn nichts daran zu rütteln. In seinen Augen war die forensische Medizin der öffentlichen Gesundheit verpflichtet, ein Bereich, in dem die Medien nichts zu suchen hatten. Ihre Aufgabe beschränkte sich darauf, die Bevölkerung über lebensgefährliche Bedrohungen wie eine Verseuchung mit Chemikalien oder ansteckende Krankheiten aufzuklären, ob es nun eine neue, möglicherweise todbringende Babywiege oder ein Ausbruch des Hantavirus war. Scarpetta fand diesen Ansatz nicht unbedingt falsch. Das Problem bestand nur darin, dass er nicht mehr zeitgemäß war. Die Welt hatte sich verändert, und das nicht unbedingt zum Besseren.
»Ich taste mich vorsichtig auf einem Weg voran, den ich mir nicht ausgesucht habe«, erwiderte Scarpetta.
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