Scatterheart
der Stirn.
Sie breitete den feuchten Stofffetzen aus und betrachtete ihn. Er war so zerschlissen, dass er beinahe auseinanderfiel.
Sie dachte daran, wie Thomas sie angesehen hatte, als er ihr seine Liebe gestanden hatte. Aber hatte er das wirklich gesagt? Hannah versuchte sich an jedes einzelne Wort zu erinnern. Nein, er hatte es nie ausgesprochen. Vielleicht war an den Gerüchten über die andere Frau etwas Wahres? Warum sollte er sie, Hannah, auch lieben? Sie war eigensüchtig und grausam gewesen. Thomas war anders alsJames. Er hätte sie nicht für etwas geliebt, was sie nicht war. Er hätte sie gar nicht geliebt.
»Was habe ich getan?«, murmelte sie.
Hatte sie sich alles nur eingebildet? Hatte er nur aus Mitleid um ihre Hand angehalten? Oder aus Pflichtgefühl?
Eine schreckliche Verzweiflung presste ihr Inneres zusammen und nahm ihr fast den Atem. Die Höhle kam ihr plötzlich so klein vor, aber sie konnte nicht fort, da es regnete. Sie saß in der Falle.
Sie hätte Molly niemals mitnehmen dürfen, sie war doch noch ein Kind. Hannah hatte sich eingebildet, sich geändert zu haben, aber sie war genauso eigensüchtig wie eh und je. Sie verdiente es nicht anders, wenn sie Thomas nicht fand.
Ein schwerer Donnerschlag erschütterte die Luft und Molly wimmerte.
Panische Angst schnürte Hannah die Kehle zu. Sie würden hier sterben.
»Hannah«, flüsterte Molly. »Hannah.«
Hannah versuchte ihre Panik zu unterdrücken. »Ich bin hier, mein Schatz«, sagte sie und nahm Mollys Hand. »Ich bin hier.«
»Ich …«, Molly stockte und bekam einen heftigen Hustenanfall. »Ich bin die dritte Eichel.«
»Wie?«
»Ich bin die dritte Eichel. So wie die Brille, die du den braunen Männern gegeben hast. Du musst weitergehen.«
Molly verlor das Bewusstsein und schlug mit dem Kopf hart auf dem Boden auf.
Hannah streichelte ihre Wange. »Nein«, seufzte sie.
Entschlossen schlüpfte sie aus der Höhle in den Regen hinaus. Der Wind pfiff und heulte in den Bäumen wie im Takelwerk der
Derby Ram
. Sie hielt nach dem blinkenden gelben Licht von Thomas’ Lagerfeuer Ausschau, konnte jedoch vor lauter Regen nichts erkennen.
Seit drei Nächten hatten sie es nicht mehr gesehen.
»Nein«, sagte sie noch einmal, lauter jetzt.
»Hört ihr mich, ihr Berge?«, schrie sie gegen den Sturm.
»Ich gebe nicht auf. Ich habe ein ganzes Meer überquert, um hierherzukommen. Ich habe diesen Berg erklommen.
Ich werde sie nicht sterben lassen
.«
Die Berge antworteten ihr mit Blitz und Donner.
Hannah war bis auf die Haut durchnässt, das Wasser lief ihr in den Mund. Sie lachte. Die Berge konnten ihr keine Angst einjagen. Sie war so weit gekommen, jetzt würde sie ihn auch finden.
Sie kroch in die Höhle zurück, legte sich hin und nahm wieder Mollys Hand.
»Du wirst bald gesund«, flüsterte sie, »das verspreche ich.«
Dann dämmerte sie in einen tiefen, wundersamen Schlaf hinüber.
Hannah lag am Eingang der Höhle und sah zu den Sternen empor. Dort war der Große Bär, er glitzerte wie einglänzendes Schwert. Das Auge des Bären glühte gelb am Horizont.
»Wo bist du gewesen?«, fragte sie leise. »Ich habe dich vermisst.« Sie streckte die Hand aus und wollte den Bären berühren – er schien so nah zu sein. Sie strich mit den Fingerspitzen über die Sterne. Sie gaben ein klirrendes Geräusch von sich und schwebten nach unten. Und wie sie so sanft vom Himmel fielen, merkte Hannah, dass es nicht Sterne, sondern Schneeflocken waren. Sie landeten sacht auf ihren Wangen und Lippen, kalt und zart. Sie seufzte und fiel in einen traumlosen Schlaf.
Hannah erwachte im Fieber. Alles verschwamm vor ihren Augen.
Der Himmel glühte, brannte und loderte in orangerosa und goldenen Flammen. Das Tal unter ihr war nicht mehr zu sehen. Die Welt war in Schnee gehüllt.
Unter ihr erstreckte sich eine weiße Ebene, aus der grünblaue Gipfel aufragten wie große Segelschiffe auf dem Meer. Hannah erinnerte sich, dass sich der Große Bär nachts in Schnee verwandelt hatte.
»Ich weiß es wieder«, flüsterte sie. »Östlich der Sonne und westlich des Mondes.«
»Molly«, rief sie. Ihre Stimme klang matt und heiser. Sie befeuchtete ihre trockenen, aufgesprungenen Lippen. Ihr Mund fühlte sich an, als ob sie Sand geschluckt hätte.
Sie versuchte sich aufzurichten, doch augenblicklich kippte die Welt nach hinten über. Sie fror und schwitzte zugleich und ihr Kopf war wie mit Wolle ausgestopft. Schwankend rappelte sie sich hoch und stützte sich auf
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