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Scatterheart

Scatterheart

Titel: Scatterheart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lili Wilkinson
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langhaariges Schaf über das Eis zog.
    Ein einäugiges Mädchen mit einem vernarbtem Gesicht huschte durch die Menge und erbettelte Sechser-Stücke. Hannah gab ihm eine Münze. Das Mädchen biss misstrauisch darauf und prüfte, ob sie echt war. Dann steckte es die Münze in seine Tasche.
    »Danke, Frollein«, sagte es.
    Von Nahem sah die eine Gesichtshälfte wie geschmolzenes Kerzenwachs aus. Sie glänzte feucht und wund und dort, wo das linke Auge hätte sein müssen, klaffte ein schwarzes Loch. Das Mädchen hatte eine schmutzige rote Schürze umgebunden. Seine Stiefel waren so abgetragen,dass aus dem einen ein dreckiger Zeh hervorlugte. Strümpfe hatte es keine. Hannah wandte sich mit einem Gefühl von Abscheu und Mitleid von ihm ab.
    Der schwarzbärtige Mann ging zu einem eisernen Bratenspieß, der am Südufer des Flusses aufgebaut war, und zog ein langes, scharfes Messer aus seinem Mantel. Die Menschen sahen ihm mit angehaltenem Atem zu. Der Mann klemmte das Schaf zwischen seine Knie und zog mit einer Hand ruckartig den Kopf des Tieres nach hinten. Es blökte jämmerlich. Das Mädchen mit dem Wachsgesicht kicherte. Mit einem zügigen sauberen Schnitt führte der Schwarzbärtige das Messer durch die Kehle des Schafs.
    Das Blut ergoss sich wie ein Wasserfall auf das Eis. Ein durchdringender metallischer Geruch stieg Hannah in die Nase. Noch ein Schnitt und das Gedärm quoll wie eine zartrosa Taurolle aus dem Leib des Tieres hervor.
    Zwei weitere Männer traten hinzu und zogen dem toten Tier mit geübten Schnitten die Haut ab. Der Kadaver dampfte in der kalten Nachmittagsluft.
    Sie steckten das Tier auf den Bratenspieß und schoben ein Becken glühender Kohle darunter. Der Duft von brutzelndem Fleisch erfüllte die Luft.
    Langsam dämmerte es. An den Buden wurden Laternen und Fackeln angezündet, die ein behagliches Licht verbreiteten und das Eis auf dem Fluss in glitzerndes Gold tauchten.
    Ein Mann setzte eine Fidel ans Kinn und ein anderer begann zu singen:
    Zum Frostmarkt, Leute, kommt und staunt,
hier könnt ihr Wunderdinge schaun.
Wenn die Themse ist vereist,
eilt herbei, kauft, trinkt und speist,
hier einen Kaffee, dort einen Tee,
dann einen Ringeltanz im Schnee.
Mann, Frau und Kind sind hocherfreut,
die Themse friert, Frostmarkt ist heut!
    Manche Paare fingen an zu tanzen, aber das Eis war glatt und viele rutschten aus und fielen hin. Der Mann mit dem schwarzen Bart schnitt Bratenstücke aus dem Fleisch.
    »Hammel aus Lappland!«, rief er. »Greift zu, Leute. Portion ein Schilling!«
    Hannah reichte ihm eine Münze und bekam dafür ein Stück dampfenden, heißen Braten in Zeitungspapier eingeschlagen. Sie kaute eifrig, weil das Fleisch zäh und sehnig war.
    Das kleine einäugige Mädchen schlenderte durch die Menge. Es kam an Hannah vorbei und stieß sie beinahe um, hüpfte aber gleich zurück und rief: »’tschuldigung, Frollein! Einen Sechser, bitte!«
    Hannah bemerkte, dass sich die Menschen nicht mehr schwatzend um die Buden drängten, sondern nach Ostenströmten, wo ein behelfsmäßiges Rundtheater aus Holz auf dem Eis aufgebaut war, das von flackernden Fackeln beleuchtet wurde. Rechts und links vom Eingang standen zwei Männer und kassierten Eintritt. Die Menge schob sich neugierig vor.
    »Eine halbe Krone!«, rief der eine. »Eine halbe Krone, dann seht ihr das schrecklichste Untier des nördlichen Polarkreises und seinen furchtbaren Kampf.«
    Hannah öffnete ihren Pompadour. Er war leer. Sie sah sich erschrocken um, dann erinnerte sie sich an das kleine Mädchen mit dem Wachsgesicht, das sie fast umgerannt hatte. Es hatte Hannah bestohlen.
    Vom Theatereingang waren Schreie zu hören. Ein Mann war mit den Kartenverkäufern in Streit geraten. Er versuchte sich an ihnen vorbeizudrängen, aber sie stießen ihn zurück. In dem Handgemenge preschten die anderen Wartenden nach vorn und stürmten, Hannah mit sich reißend, in das Theater.

Scatterheart führte die blaue Eisfrucht an ihre Lippen, aber die Frucht wurde weich und begann zu schmelzen. Erschrocken sah Scatterheart, dass auch die Eispflanzen zu schmelzen begannen. Sie tropften und knisterten und die Mauern des weißen Gartens fielen in sich zusammen. Plötzlich stand der weiße Bär vor dem Mädchen. »Was hast du getan?«, schrie er.
    John Higgins verließ den Zeugenstand und ging hinaus. Hannah starrte auf den weißen Gipslöwen über dem Thron des Oberbürgermeisters. Wirklich, er bewegte sich. Er schlug mit seinem Schweif hin und her und

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