Scatterheart
sie lernte Großmast und Besanmast zu unterscheiden.
Abends saßen die Frauen auf ihren Stockbetten und spielten Karten. Sie tranken ihre Tagesration Rum und rannten dann kichernd zu den Hängematten der Matrosen hinauf. Hannah fiel meist erschöpft in ihr Bett und schlief sofort ein. Sie ließ sich dabei weder von dem kratzigen Strohsack und der rauen Decke stören noch von dem gedämpften Rumpeln und Stöhnen, das aus dem Quartier der Matrosen kam.
Hannah und Long Meg hockten mit einigen anderen Frauen auf dem Vorderdeck und nähten Leinenhemden, die Captain Gartside in New South Wales verkaufen wollte. Hannah staunte, wie flink die anderen waren – sieselbst hatte bis dahin nur zum Zeitvertreib eine Nadel in die Hand genommen. Sie hatte nie etwas flicken oder gar ein Kleid schneidern müssen.
Die Pfeife schrillte. Hannah hielt nach James Ausschau, entdeckte aber nur den Schiffsarzt auf dem Oberdeck. Long Meg folgte ihrem Blick und schnaubte angewidert. »Kennst du ihn?«, fragte Hannah. »Das ist ja der Schiffsarzt. Ich dachte, er sei der Tod.«
Long Meg lachte laut auf. »Ist er auch«, sagte sie und rief:
»Hui! Doktor Tod!«
Dr. Ullathorne drehte sich um und glitt die Stufen zum Vorderdeck hinauf. Dann stand er vor ihnen. Hannah stockte der Atem.
Der Schiffsarzt war sehr groß und sein Gesicht war früher sicher einmal attraktiv gewesen. Nun aber war es von weißen wuchernden Pusteln übersät. Auf seiner Oberlippe blühte eine offene, nässende Entzündung und das graue Fleisch um seine Nase sah aus, als verwese es. Einer seiner Schneidezähne fehlte und sein Speichel war schwarz wie Teer.
»Du dreckige Bestie«, sagte er zu Long Meg. »Was fällt dir ein?« Seine Stimme klang vornehm und gebildet. Ganz offensichtlich war er einmal ein Herr von Stand gewesen.
Long Meg schaute dreist zu ihm hoch. »Dreckig, ich? Ich bin nicht dreckiger als Lizzy, Pam oder Katie. Aber mit denen rumzuschäkern, das hat Ihnen nichts ausgemacht! Ist doch so, Dr. Tod?«
Dr. Ullathorne zog eine wütende Grimasse, doch Meg legte ihr Nähzeug zur Seite und stand auf. Sie war groß, aber der Arzt überragte sie noch ein ganzes Stück. Sein schwarzer Speichel glitzerte.
»Wir wissen genau Bescheid, was mit Ihnen los ist«, sagte Long Meg. »Sie sind der Doktor, der nicht Medizin, sondern Sargnägel ausgibt.«
Sie trat auf ihn zu und presste sich an ihn. Hannah erstarrte, Long Megs vulgäre Geste entsetzte sie ebenso wie das verunstaltete Gesicht und das verächtliche Grinsen des Arztes.
»Rühr mich nicht an!«, sagte der Arzt und gab Long Meg einen Stoß, dass sie aufs Deck fiel. Sie hob den Kopf und grinste bitter.
»Aber warum denn nicht, Doktor?«, fragte sie. »Haben Sie etwa Schiss, dass Sie sich was holen könnten?«
Doktor Ullathorne spuckte sie an. Sein schwarzer Speichel kroch wie eine fette Schnecke an ihrer Wange herab. Mit einer barschen Geste winkte er Jemmy Griffin, einen Matrosen, herbei, der den Wortwechsel beobachtet hatte.
»Bring sie in den Bau«, befahl der Doktor und ging.
»Aye, Sir«, sagte Jemmy und packte Meg grinsend am Handgelenk. Um seinen Arm ringelten sich Schlangentätowierungen und sein Rücken war mit Buchstaben übersät. Cathy, eine robuste blonde Mitgefangene, hatte erzählt, dass er sich die Anfangsbuchstaben der Namen von jeder Frau, die er einmal geliebt hatte, eintätowieren ließe.
Long Meg beugte sich zu ihm vor. »Ahoi, Junge, willste den Lachs in die Butter stecken?«
Jemmy zwinkerte Hannah zu und legte Meg quer über seine Schulter. Hannah errötete.
Long Meg lachte und sagte zu Jemmy: »Ich merk schon, du magst die raue Tour. Mit Vergnügen.«
Es war nicht der letzte Besuch Long Megs im Bau, einem winzigen, kastenartigen Käfig auf dem Orlopdeck, der sich inmitten von Vieh, Schweinen und Hühnern befand. Irgendetwas an dem Schiffsarzt reizte sie, und sie versäumte keine Gelegenheit, ihn zu verhöhnen.
»Warum hasst du ihn so?«, fragte Hannah.
Long Meg rümpfte die Nase. »Er ist ein schlechter Mann.«
»Warum?«
»Er ist ein Hurenbock.
Ansteckend
. Er klappert sämtliche Edelpuffs ab und gibt den Mädchen sein Andenken.«
Hannah zog fragend die Augenbrauen hoch.
»Die Franzosenkrankheit«, sagte Meg. »Die Syph. Deshalb sieht er auch so hübsch aus. Er stirbt nämlich bald und möchte so viele Huren wie möglich mit in die Hölle nehmen. Die sollen ihm dort Gesellschaft leisten.«
»Nein«, rief Hannah schockiert, »das glaube ich nicht!«
»Und nicht nur die
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