Scatterheart
an.
»Feiner Wind, vorne Locken, hinten Grind.«
Hannah zog die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf. »Ich verstehe kein Wort.«
Tabbys Hand schoss so schnell vor, dass Hannah sie kaum wahrnahm. Aber sie beobachtete, wie die schrumpeligen, knorrigen Finger die krabbelnde Fliege packten, und hörte das Schmatzen der Alten. Angeekelt wandte sie sich ab.
»Die Vergangenheit etwa schon vergessen?«, fragte Tabby.
»Bären haben ein langes Gedächtnis. Länger als jeder Elefant.«
Tabby schlurfte davon und Hannah dachte an den weißen Bären.
Sie hörte Schritte hinter sich und drehte sich um. Ein Junge, der kaum älter als zwölf Jahre alt sein mochte, stieg die Stufen zum Vorderdeck hinauf und ging an ihr vorbei, ohne sie zu beachten. Als er vorne an der Spitze des Schiffs angekommen war, setzte er ein Fernglas ans Auge. Er trug eine Offiziersuniform, die an ihm viel zu groß aussah. Sein Kopf verschwand beinahe unter dem Zweispitz.
»Hallo, du«, rief Hannah freundlich, »bist du mit deinem Vater hier? Willst du auch einmal Seemann werden, wenn du groß bist?«
Der Junge ließ das Fernglas sinken und wandte sich zu Hannah um. Seine Miene war eisig.
»Ich bin zweiter Leutnant zu See, Robert Bracegirdle«, sagte er mit hoher, näselnder Stimme. »Bitte begeben Sie sich wieder in den Sträflingstrakt.«
Hannah schluckte und starrte den Jungen an.
»Los, Frau!«, schrie er mit sich überschlagender Stimme.
»Oder wollen Sie disziplinarisch belangt werden?«
»Deines Vaters Haus?«, fragte die alte Frau achselzuckend. »Ich weiß nur, dass du zu spät oder nie dort hinfinden wirst. Aber vielleicht kann meine Nachbarin dir helfen. Und nimm diese Eichel aus Kupfer mit.«
Langsam stellte sich ein regelmäßiger Tagesablauf auf dem Schiff ein.
Kaum hatte der Assistent des Schiffsarztes Hannah für gesund erklärt, musste sie auch schon an die Arbeit. Die Frauen nähten, kochten, putzten und schrubbten. Hannahs zarte, blasse Hände waren vom heißen Wasser und rauen Leinen bald rot und voller Schwielen. Jeden Morgen wurden die Frauen vom jungen Leutnant Bracegirdle geweckt, der viermal die Glocke zum Frühstück läutete.
Nach dem Essen begann die Arbeit. Die Frauen, die sich aufs Nähen verstanden, mussten die Hemden und Hosen der Matrosen und Offiziere flicken und schneidern. An die Segel wurden sie aber nicht gelassen – diese Aufgabe war allein den Matrosen vorbehalten.
Die übrigen Frauen wurden in zwei Arbeitsgruppen eingeteilt. Hannah war zuerst entsetzt, als sie die Decks mit Klumpen von grauem Scheuerstein schrubben und die Messingbeschläge polieren sollte. Als sie protestierte, drohte ihr der Aufseher mit Prügel.
»Halt die Klappe, Hochwohlgeboren, sonst bekommen wir noch den Katzenschwanz zu spüren«, warnte sie Long Meg, die die Szene beobachtet hatte.
Alle drei Tage schleppten die Frauen ihre Strohsäcke und Decken zum Auslüften nach oben. Es gab nicht genug Frischwasser zum Waschen, aber das Lüften war besser als nichts.
Bald war Hannah froh über diese Arbeit, durch die sie viel Zeit an Deck in der Sonne verbringen konnte. Nur die anzüglichen Blicke der Matrosen waren ihr peinlich. Andere Arbeiten waren noch unangenehmer. Zum Beispiel dem Koch bei der Zubereitung der wässrigen Eintöpfe mit den zähen, gepökelten Fleischbröckchen zu helfen. Hannah wurde dabei regelmäßig übel. Die Kombüse war eng und muffig und in den Vorratsfässern fanden sich oft mehr Ratten und Käfer als richtige Lebensmittel. Außerdem ließ der Koch kaum eine Gelegenheit aus, sich in der übervollen Küche an ihr vorbeizudrücken und an sie zu pressen.
Die schlimmste Arbeit war jedoch die Herstellung von Werg. Die Sträflinge bekamen Berge von altem Takelgut, aus dem sie die einzelnen Hanffasern zwirbeln mussten.War auf diese Weise ein Haufen aus lockeren Fasern entstanden, wurde dieser mit Teer vermischt und zwischen die Schiffsplanken gestopft, um sie gegen Wasser abzudichten. Das Werg war sehr rau und Hannahs Hände waren vom vielen Wäschewaschen ohnehin schon wund. Die drahtigen Hanffasern bohrten sich unter ihre Fingernägel, was zu Schwellungen und Entzündungen führte.
Als die Kerben über Long Megs Bett auf sieben, zehn und fünfzehn anwuchsen, verstand Hannah allmählich die Sprache des Schiffs. Der vordere Teil war für sie nicht mehr vorne, sondern das Vorderdeck. Das Achterdeck war nicht hinten, sondern achtern. Der Schlaftrakt nicht auf der rechten Seite, sondern auf Steuerbord. Und
Weitere Kostenlose Bücher