Scatterheart
Damen«, fuhr Meg fort. »Auch ’ne Menge Stricher haben schon seinen Wespenstachel zu spüren gekriegt. Er ist so was wie ’ne Anzeigenpostille – offen für alle Seiten.«
Hannah schwieg. War das, was Meg erzählte, wirklich wahr?
Aber Long Megs Beschimpfungen waren nicht der einzige Grund für die Strafen, die sie absitzen musste. Regelmäßig schlich sie in die verbotenen Bereiche des Schiffs, zu den Diensträumen auf dem Achterdeck und zu den Vorratslagern tief unten im Laderaum. Sie stahl Tabak und Wein und tauschte ihre Beute mit anderen Sträflingen und Matrosen gegen Gefälligkeiten ein. Nachts war sie oft nicht in ihrem Bett. Hannah hielt sich beim Einschlafen die Ohren zu, um die seltsamen Geräusche von oben nicht hören zu müssen, die sie an den Mann und die Frau denken ließen, die sie in London an der Wand hatte stehen sehen. Immer wieder wurde Long Meg erwischt und landete im Bau. Es stank dort nach Bilgewasser und Tieren und es gab keine Fenster, nicht einmal so ein spärliches Licht wie im Schlaftrakt der Frauen. Die Mischung aus stickiger Luft, quälender Enge und dem unregelmäßigen Schaukeln des Schiffs hätte auch dem härtesten Seemann zugesetzt. Nach einigen Stunden wurde Meg wieder an Deck gelassen. Mit bleichem Gesicht und leerem Magen zeigte sie dann vorübergehend Wohlverhalten.
Am Ende der dritten Woche hatte sich der blaue Himmel zugezogen und über dem Schiff hingen dunkle Wolken. Starker Wind kam auf und die Leinen schlugen knatternd gegen die Segel. An Bord herrschte eine gereizte Stimmung. Alle warteten auf den Sturm. Matrosen ranntenhin und her, sicherten die Leinen und verstauten lose Gegenstände. Die Frauen mussten zur Sicherheit im Orlopdeck bleiben.
Hannah lag auf ihrem Bett. Long Meg saß mit untergeschlagenen Beinen da und riss einzelne Papierstreifen aus einer Bibel, die sie als Lockenwickler verwenden wollte. Molly hockte neben ihr und zupfte eine der Bibelseiten in winzige Fetzen.
»Jetzt ein ordentlicher Schluck, das wäre was«, murmelte Meg. »Eingesperrt wie die Hühner sind wir. Spätestens heut Abend können wir Davy Jones die Hand schütteln. Wartet nur ab, das wird ein Wahnsinnssturm. Und dann kommen die Seeungeheuer, da könnt ihr Gift drauf nehmen.«
»Wer ist das, Davy Jones?«, fragte Molly.
Long Meg setzte eine Gruselmiene auf. »Das ist der Teufel der Meere«, sagte sie unheilvoll. »Er hat riesige Feueraugen und Hörner und einen spitzen Schwanz. Und er hat ’ne Menge scharfer Zähne und aus seiner Nase kommt blauer Rauch.«
Molly bebte vor Begeisterung und Hannah verdrehte die Augen.
»Du hast wohl zu viel Zeit mit den Matrosen verbracht. So ein Unsinn.«
»Ich mag die Matrosen.« Long Meg zwinkerte Molly zu. Das Mädchen kehrte die winzigen weißen Papierschnipsel in ihre Hand und pustete sie zu Hannah hinüber. Siewirbelten hoch und blieben schließlich auf Hannahs Schoß liegen.
»Es schneit!«, jubelte Molly.
»Verschwinde, du Scheusal!«, rief Hannah und klopfte sich das Papier vom Kleid. Molly kreischte und trippelte davon.
Meg schnaubte aufgebracht. »Aber, aber, was regen Euer Gnaden sich auf?«
»Ich verstehe wirklich nicht, warum du sie immer an deinem Rockzipfel hängen lässt.«
Long Meg sah Hannah überrascht an. »Wieso bist du so sauer auf sie? Sie ist doch noch ein Kind. Hat keine Mama und keinen Papa, die Kleine.«
»Als sie mich in London bestohlen hat, kam sie mir nicht so klein und harmlos vor.«
»Hab ein bisschen Mitleid mit ihr. Nicht alle sind im Luxus groß geworden wie du.« Meg deutete mit dem Kopf auf Molly. »Und mit so einer Visage bleibt ihr doch gar nichts anderes übrig, als zu stehlen. Die findet keinen Herrn, der für eine Nacht mit ihr was springen lässt.«
Hannah schwieg und rollte sich auf den Bauch. Meg legte kurz die Bibel beiseite, holte ihren Löffel und kratzte die einundzwanzigste Kerbe in den Balken über ihrem Bett. »Wie lang wird es dauern, Meg?«, fragte Hannah mit einem Blick auf die Kerben.
Long Meg zuckte die Achseln. »Der Wind spielt nicht mit«, antwortete sie. »Einer der Burschen hat gesagt, wirkämen ziemlich langsam voran. Wir sind noch nicht einmal an Spanien vorbei.«
Hannah erinnerte sich an das Puzzle mit der Weltkarte, mit dem sie und Thomas Behr immer gespielt hatten. Dann fiel ihr etwas ein, das ihr schon lange auf der Seele lag. Sie hatte erfolglos versucht es zu verdrängen.
»Was geschieht, wenn wir dort ankommen?«
Meg machte sich wieder über die Bibel
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