Scatterheart
her.
»Keine Ahnung«, sagte sie. »Wahrscheinlich Dienstmädchen bei reichen Leuten. Oder wir werden als Sklaven an die Eingeborenen verkauft.«
Sie schauderte.
Hannah versuchte sich vorzustellen, wie es in New South Wales sein würde. Sie dachte an das seltsame Tier, das Thomas Behr aus Schnee gebaut hatte. Ein
Känguru
. Ob es dort auch Häuser gab? Oder lebten die Menschen in Zelten? Sie hatte zwar seit ihren Kindertagen immer wieder von der Kolonie gehört, hatte aber keine Ahnung, wie zivilisiert die Menschen dort waren.
»Ich hab mal von einem Ort gehört, der Fabrik heißen soll«, fuhr Long Meg fort.
»Fabrik?«, fragte Hannah. »Was für eine Fabrik?«
»Weiß nich’. Aber da kommen angeblich die schlechten Frauen hin.«
Hannah hatte in den Zeitungen ihres Vaters über Fabriken gelesen. Das waren Häuser, in denen viele Sachen auf einmal produziert wurden. Sie fragte sich, was in der Fabrikin New South Wales hergestellt wurde und was die Frauen damit zu tun hatten.
Aus einem der Nachbarbetten war ein Stöhnen zu hören. Sally war wieder seekrank und in Schweiß gebadet.
»Sollen wir Dr. Ullathorne rufen?«, fragte Hannah.
»Der schlitzt ihr höchstens die Kehle auf, aber untersuchen tut er sie nicht«, entgegnete Meg. »Und ihr ungeborenes Baby frisst er womöglich noch.«
Meg zog die Augenbrauen hoch, als sie Hannahs angewiderten Gesichtsausdruck sah.
»Er ist eine Schlange«, erklärte sie. »Dem müsste man seine widerliche schwarze Zunge rausschneiden.«
»Du solltest ihn nicht immer so reizen«, sagte Hannah.
»Er ist ein Offizier. Du bist ein Sträfling. Du weißt doch, dass du gegen ihn nicht ankommst.«
Long Meg verdrehte die Augen. »
Er ist ein Offizier!
«, äffte sie Hannah nach. »Du hast wohl einen Goldschleier vorm Gesicht, Frollein. Ein Offizier ist doch nicht automatisch ein Gentleman. Die sind alle gleich. Schlangen und Tiere sind das. Ja, auch dein kostbarer James Belforte.« Meg warf einen forschenden Blick in Hannahs Gesicht. »Tiere. Die bearbeiten dich, bis du weich bist, und dann machen sie dich fertig. Dein Leutnant will auch nur das eine. Eine, die ihn am Schwanz kitzelt.«
»Das glaube ich dir nicht«, sagte Hannah. Long Meg war eindeutig eine Lügnerin. Wahrscheinlich hatte sie auch das Gräuelmärchen über den Arzt erfunden.
»Dann lass es bleiben«, sagte Long Meg. »Komm doch nachts mal hoch und sieh selbst.«
Hannah zitterte. »Warum machst du das überhaupt? Wenn du sie so verabscheust, warum gehst du denn da hinauf?«
»Geschäft ist Geschäft«, sagte Meg. »Ich geb ihnen, was sie wollen, und sie geben mir, was ich will.«
Hannah schwieg.
»Schockiert, Gnädigste?« Meg kicherte, sie wickelte eine Haarsträhne auf einen Papierstreifen und steckte sie fest.
»Findest du das richtig, was du da tust?«, fragte Hannah mit einem Blick auf die malträtierte Bibel.
»Was meinst du? Dass ich mit Jemmy Griffin oben Bananenkuchen backe? Oder dass ich meine Haare eindrehe?« Hannah sah sie böse an. »Du weißt genau, was ich meine.«
»Ich mag Locken«, erwiderte Long Meg gleichgültig.
»Aber mit einer Bibel!«
»Warum nicht? Anderes Papier hab ich nicht und lesen kann ich auch nicht. Das Ding nützt mir doch gar nichts außer als Lockenwickler.« Sie blickte nachdenklich auf das Buch. »Ich glaube, ich hätte jetzt nichts gegen ein Kartenspiel …«
Hannah rollte sich auf die Seite und drehte Long Meg den Rücken zu.
Plötzlich brach ein Getöse aus, die Frauen pfiffen und buhten. Hannah stützte sich auf die Ellbogen und spähte durch den Gang. James kam direkt auf sie zu. Er lächelte,als ihm einige Frauen ihre Dienste anboten, und blieb vor Hannahs Bett stehen. Hannah starrte ihn an, sie wusste nicht recht, was sie sagen sollte.
»Möchten Sie mit mir an Deck kommen?«, fragte er. »Bis jetzt regnet es nicht.«
»Aber gern«, erwiderte Hannah.
»
Abergern
«, spottete Long Meg und wandte sich James zu.
»Hallo, Sir. Sie wollen die Gnädigste wohl flachlegen?«
Hannah sah Long Meg wütend an. James half ihr aus der Koje und ging ihr voraus.
»Ich glaube, Sie wären einem Tänzchen mit einem leichten Mädchen nicht abgeneigt, Mister!«, rief Long Meg hinter ihnen her.
Hannah wurde rot, doch James drehte sich grinsend um.
»Vielen Dank, Meg, aber heute bin ich nicht in Tanzstimmung.« Spöttisch grüßend legte er seinen Finger an die Stirn.
Auf dem Vorderdeck herrschte eine unheimliche Stille. Die Matrosen hatten alle erdenklichen
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