Scatterheart
Wasser sprangen und wieder eintauchten und sich dabei genau dem Tempo des Schiffs anpassten.
»Wie wunderschön sie sind«, flüsterte Hannah.
James lächelte. Die Kuppe seines kleinen Fingers strich an Hannahs kleinem Finger entlang. Sie erschrak und ihr wurde seltsam warm.
Als Hannah abends wieder in den Schlaftrakt hinunterkam, war alles still. Sie rümpfte die Nase, denn es roch unangenehm süßlich nach Blut und auch nach etwas anderem, es war ein säuerlicher, fremdartiger Geruch.
Sally lag auf ihrem Bett, die Decke und die Matratze waren blutgetränkt. Sie war sehr bleich, aber sie lebte. Neben ihr lag ein seltsames, runzliges, bläuliches Etwas, das leise wimmerte. Hannah verzog das Gesicht. Es war das Hässlichste, was sie je gesehen hatte. Sally schaute es an und lächelte. Dann schloss sie erschöpft die Augen.
Hannah warf sich auf ihr Lager, streckte sich und gähnte. Eine kleine Gestalt huschte an ihr vorbei, es war Molly. Hannah beachtete sie nicht.
Sie dämmerte gerade in den Schlaf hinüber, als das Bett neben ihr knarrte. Long Meg.
Ihr Kopf war geschoren. Zwei große rote Striemen, aus denen Blut sickerte, zogen sich quer über ihre Wangen. Ein Auge war schwarz und zugeschwollen und ihre Lippe aufgeplatzt.
»Meg!«, rief Hannah. »Wer hat das getan?«
Long Meg schwieg. Sie legte sich hin und drehte Hannah den Rücken zu.
»Ich kenne deinen Vater nicht«, sagte das Wachskind und kicherte. »Und es kümmert mich auch nicht. Aber höre auf meine Worte, du wirst zu spät oder nimmermehr dorthin kommen. Nimm diese goldene Eichel.«
Long Meg sprach weder mit ihr noch, wie es schien, mit den anderen. Sie blieb die meiste Zeit im Bett, zupfte gedankenverloren an ihrem Strohsack und starrte ins Leere. Nur zum Essen verließ sie das Orlopdeck. Die hässlichen Schnittwunden auf ihren Wangen entzündeten sich und schwollen an, aber sie ging nicht zu Dr. Ullathorne.
Jeden Tag kratzte sie eine neue Kerbe in das Brett über ihrem Bett. Es wurden immer mehr und eines Morgens stellte Hannah fest, dass sie schon seit zwei Monaten auf See waren. James erzählte ihr, dass sie am Kap Verde vorbeiführen, dem westlichsten Teil Afrikas.
Von Molly bekam Hannah nicht viel zu sehen, aber das kümmerte sie nicht. Tagsüber verkroch sich das Kind irgendwound abends kam es erst zur Schlafenszeit ins Orlopdeck hinunter.
Je weiter sie nach Süden fuhren, umso wärmer wurde es. Sally erholte sich allmählich wieder und das Kind schien die meiste Zeit damit zu verbringen, an ihrer Brust zu nuckeln oder kräftige Schreie auszustoßen, die Hannah einem so kleinen Wesen nicht zugetraut hätte.
Es gab zwar Arbeiten zu erledigen – die Decks schrubben, nähen und flicken oder in der Schiffsküche helfen – aber oft konnte Hannah auch tun und lassen, was sie wollte.
Sie verbrachte viele Stunden mit James. Sie saßen in der Sonne, unterhielten sich und schwelgten in Erinnerungen an ihr Leben in London. Hannah liebte diese Unterhaltungen, aber sie fragte sich manchmal, ob es nicht noch andere Themen gäbe. Die wenigen Male, die sie das Gespräch auf Literatur, Kunst oder Geschichte lenkte, sah James sie missbilligend an und sagte: »Dieser Hauslehrer hat Ihnen lauter unschickliche Dinge beigebracht.«
Eines Morgens suchte James Hannah auf, als sie gerade das Messinggeländer putzte, das zwischen dem Oberdeck und dem Achterdeck verlief.
»Kommen Sie in meine Kajüte, ich habe eine Überraschung für Sie«, bat er.
Hannah legte den Lappen weg und wischte sich das Putzzeug von den Fingern.
»Was für eine Überraschung?«
James schwieg und nahm nur lächelnd ihre Hand.
Als er die Tür zu seiner Kajüte öffnete, blieb Hannah überrascht stehen. Die Schreibutensilien waren weggeräumt und über den Tisch war ein weißes Stück Stoff gebreitet. Darauf stand ein silberner Toastständer mit drei Scheiben Brot.
»Sie haben Toast für mich gemacht?«, fragte Hannah. Tränen der Dankbarkeit schossen ihr in die Augen.
James geleitete sie zum Stuhl und bat sie sich zu setzen.
»Nicht ganz«, sagte er, »das sind Reste vom Offiziersfrühstück. Butter oder Marmelade gibt es leider nicht, das haben wir alles aufgegessen.«
Hannah zögerte.
»Greifen Sie zu«, ermunterte sie James.
»Wollen Sie nicht auch etwas?«, fragte Hannah.
James verneinte kopfschüttelnd. »Ich habe reichlich gefrühstückt.«
Hannah nahm eine Scheibe Toast. Sie war kalt und sehr trocken und nach den ersten Bissen blieben ihr die Krümel im Hals
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