Scatterheart
dass der Leutnant vielleicht doch nicht so verlockend ist.«
»Ja, Sir.«
»Ich glaube, Sie gehen Mr Belforte in Zukunft besser aus dem Weg«, fuhr Captain Gartside fort. »Ich kann nicht zulassen, dass meine Offiziere von Sträflingen angefallen werden. Das geht einfach nicht. Ich müsste Sie eigentlich auspeitschen lassen.«
»Ja, Sir.« Hannah wusste nicht, was sie sonst hätte antworten sollen.
»Das war in der Tat eine sehr üble Geschichte mit Ihrer Freundin.«
Hannah schluckte, sie schmeckte immer noch das Blut, das sich mit der Süße der Mango vermischte.
Captain Gartside nickte.
»Ich werde Belforte sagen, dass er sich von Ihnen fernhalten soll, und ich rate Ihnen, das ebenfalls zu tun.« Er drehte sich zu dem anderen Offizier um. »Veranlassen Sie, dass ihr der Kopf geschoren und sie auf halbe Ration gesetzt wird.«
Er machte kehrt und ging.
Der Nordwind war wild und mürrisch und blies ihnen schon von Weitem kalte Böen entgegen. Scatterheart fragte ihn, ob er das Schloss kenne, das östlich der Sonne und westlich des Mondes liege. »Ja«, brauste der Nordwind, »einmal habe ich ein Espenblatt dort hingeweht. Doch danach war ich so müde, dass ich tagelang keine Böe mehr zustande brachte. Aber ich nehme dich huckepack und wehe dich dort hin.«
Hannah stieg an Deck und atmete tief durch. Es war später Vormittag, eine kühle Brise strich über ihren frisch geschorenen Schädel und leckte die Tränen auf, die sie vergossen hatte, als der Offizier ihr die Haare abrasiert hatte.
Fast alle Frauen saßen auf dem Vorderdeck. Die meisten Männer waren an Land gegangen.
Hannah betrachtete verwundert die Stadt, die sich vor ihr ausbreitete.
Die
Derby Ram
war in einem breit angelegten Hafenbecken vor Anker gegangen, hinter ihr war das weite Meerund neben ihr hüpften kleine und große Schiffe dicht an dicht auf dem Wasser. Die Stadt lag an einem flachen Küstenstreifen. Es gab Ansiedlungen niedriger Häuser, da und dort ragten weiße Kirchtürme hervor. Dahinter erhob sich abrupt eine Hügelkette, die in ein zerklüftetes Bergmassiv überging. Einer der Berge war oben vollständig eben und sah aus wie ein geköpftes Frühstücksei. Eine weiße Wolke hatte sich wie ein Tischtuch darübergelegt. Überall wucherte üppiges Grün, so kräftig, wie Hannah es noch nie zuvor gesehen hatte. In London wurden die Bäume in geraden Linien angepflanzt, das Gras kurz geschoren und Büsche in hübsche symmetrische Formen gestutzt. Das wilde dunkle Grün dieser Landschaft jedoch hatte etwas Gewaltiges, etwas, das die Stadt zu verschlingen drohte. Die Stadt wies die Vegetation nicht in ihre Schranken, sondern schien sich gegen den erstickenden Wildwuchs verteidigen zu müssen.
»Hannah!«
Molly stürzte auf sie zu, schlang die Arme um sie und barg den Kopf an ihrer Brust. Hannah lachte. Sie war froh Molly zu sehen.
»Deine Haare!«, schrie Molly und starrte sie mit offenem Mund an.
Hannah ging in die Hocke, sodass Molly mit ihren Händen über ihren Schädel streichen konnte.
»Du siehst jetzt aus wie Long Meg«, sagte Molly und biss sich schnell auf die Lippe.
Hannah lächelte. »Nicht wahr?«, entgegnete sie. »Es fühlt sich ganz merkwürdig an, als ob ich einen Arm verloren und dann erst festgestellt hätte, dass ich die ganze Zeit zwei gehabt habe. Aber jetzt setz dich, ich muss dir nämlich etwas sagen.«
Molly kniete sich neben sie und hielt ihre Hand. Sie hob den Kopf, ihr eines Auge glitzerte wie das Meer. Die eigenartige, wächsern wirkende Haut, die Hannah früher abstoßend gefunden hatte, kam ihr jetzt glatt und einzigartig vor.
»Ich möchte dir ein Märchen erzählen«, sagte Hannah.
»Was für ein Märchen?«, fragte Molly.
Hannah sah sich selbst, wie sie sich in den Chintzsessel in ihrem Haus in London kuschelte.
»Ein Märchen, das mir mein Hauslehrer einmal erzählt hat. Er heißt Thomas Behr und die Geschichte handelt von einem Mädchen, das alle
Scatterheart
nannten.«
Molly legte die Stirn in Falten. »So ein blöder Name«, sagte sie.
»Nun, sie hieß Scatterheart, weil sie so flatterhaft war. Sie verschenkte ihr Herz zu leicht und zu oft. Als würde sie es in alle Winde verstreuen.«
»Aber es ist doch schön, seine Liebe zu verschenken.«
»Ja, schon«, sagte Hannah, »aber nicht, wenn man sie Personen schenkt, die sie nicht verdient haben.«
»Wie bei Geschenken. Wenn man jedem etwas schenkt, bedeutet es eigentlich nicht mehr viel. Wenn man abernur einer Person etwas schenkt,
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