Scatterheart
von einem fremdartigen, schokoladenbraunen kleinen Jungen in einem winzigen Ruderboot gebracht. Der Junge hatte nur eine kurze Hose an, seine nackten Arme und Beine waren dünn wie Streichhölzer. Als Hannah das Brot und den Käse sah, fiel ihr ein, dass sie auf halbe Ration gesetzt war. Aber der Bootsmann gab ihr ein Zeichen und sie durfte wie die anderen zulangen.
Molly lauschte gespannt, als Hannah ihr von der alten Frau aus Sägespänen mit der Kupfereichel und von der Glasfrau mit der Silbereichel erzählte. Als Hannah an die Stelle mit dem Wachskind und der goldenen Eichel kam, zappelte Molly aufgeregt.
»Das bin ich!«, rief sie stolz.
Hannah berichtete von dem durchtriebenen Ostwind und seinem Bruder, dem Westwind, und wie Scatterheart beinahe in der Wüste gestorben wäre, aber im letzten Moment ein grünes Tal entdeckte, wo sie auch das Schloss des weißen Bären fand.
»Und war der Bär da?«, fragte Molly.
»Nun«, antwortete Hannah, »im Schloss war ein Tisch mit einem Festmahl gedeckt und am Kopf des Tisches saß ein schöner Prinz.«
»Und, ist er das? Ist er endlich erlöst?«
»Nein«, fuhr Hannah fort, »Scatterheart glaubt, er sei es, aber dann merkt sie, dass alles nur Betrug ist.«
»Aber wer ist der Prinz?«, fragte Molly.
Hannah seufzte und das Herz wurde ihr schwer.
»Das ist nicht wichtig.«
Dann erzählte sie Molly vom Südwind und vom Nordwind und wie der Nordwind Scatterheart versprach, sie zum Land östlich der Sonne und westlich des Mondes zu bringen. Schließlich war die Pause um und sie machten sich wieder an die Wäsche.
Die Stimmung war aufgekratzt. Molly flitzte zwischen den Frauen hin und her, die ihr die sauberen Wäschestücke gaben, damit sie sie an der Reling aufhängte. Eine Frau stimmte ein Seemannslied an, die anderen fielen mit ein und schlugen die nassen Kleider im Takt der Melodie auf die Planken.
Wildes, schäumendes, brausendes Meer,
rollende Wogen, von wo kommt ihr her?
Pfeilschnelle Möwen, was sagt euer Schrei?
Endloses Meer, nur auf dir bin ich frei.
Wiegt mich, ihr Wogen, und singt mir ein Lied!
Stolz unser Schiff in die Ferne zieht
.
Hannah sang auch mit. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Sorgen mit dem Schmutzwasser über Bord flossen.
Jetzt würde alles gut werden. Sie würde sich von James fernhalten und bald würden sie in New South Wales ankommen. Und dort im Hafen würde Thomas auf sie warten. Sie stellte sich vor, wie er sie erblickte, rot wurde, seine Brille abnahm und etwas stammelte. Wie sie seine Hand ergriff und in seine Augen schaute. Sie würden sich ohne Worte verstehen. Wenn er sie an sich drückte, würde sie etwas Hartes an ihrer Brust spüren. Und dann würde sie genauer hinsehen und entdecken, dass seine Offiziersuniform mit Auszeichnungen übersät war. Thomas hatte sich im Marinedienst hervorgetan, denn er hatte unvorstellbaren Mut und Einfallsreichtum im Kampf gegen Piraten, Seeungeheuer und andere Gefahren auf See bewiesen. Er hatte eine stattliche Belohnung erhalten und er würde sie mit nach London nehmen und ihre Haare würden wieder wachsen. Sie würden zwar kein großes Haus in Mayfair beziehen, wie Hannah es sich erträumt hatte, aber sie würden ein glückliches und behaglichesLeben führen. Sie wären immer noch ehrbare Leute, die auf Gartenfeste gingen und in Vauxhall Gardens das Feuerwerk ansähen.
Molly schlitterte lachend über das nasse Deck. Die Sonne ging hinter den grünen Bergen unter und der Himmel strahlte in einem tiefen Rot.
»Wir sollten den Nordwind bitten, dass er unsere Wäsche trocknet«, rief sie außer Atem.
Hannah betrachtete ihr leuchtendes Auge und ihr wächsernes Gesicht. Was würde mit Molly geschehen, wenn sie nach New South Wales kämen? Hannah versuchte ohne Erfolg, sie sich mit Thomas in einem adretten Häuschen in London oder auf diversen Gartenfesten vorzustellen. Und wenn Hannah sie zum Feuerwerk oder zu den Seiltänzern in Vauxhall mitnähme, würden die Leute wahrscheinlich denken, sie gehöre zu den Schaustellern.
»Was passiert dann?«, fragte Molly.
Hannah schaute sie abwesend an und überlegte, wo Molly einen Platz für sich finden könnte.
»Mit Scatterheart, meine ich«, sagte Molly. »Findet sie das Land?«
»Ja«, antwortete Hannah.
»Und ist der Bär auch da?«
Hannah schüttelte den Kopf. »Es gibt dort einen großen See, ein Feld mit lauter Nägeln und einen Berg aus Glas …« Sie sprach nicht weiter.
»Und dann? Findet sie den Bären?«
Hannah schwieg. Sie
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