Scatterheart
spuckte ins Feuer, es zischte.
»Bei zehn Jahren habe ich mit dem Zählen aufgehört.«
Hannah war froh, als es schließlich dämmerte. Sie stand kalt und steif auf, ihre Kleider waren immer noch feucht und draußen nieselte es.
Sie stapften über nasse Felder, die nach verfaultem Weizen stanken. Hin und wieder sahen sie eine baufällige Hütte, machten aber jedes Mal einen Bogen darum. Sie wollten keinen halb verhungerten Bauern mehr begegnen, die von dem kargen Boden kaum leben konnten.
Die Felder waren durch Steinhaufen voneinander getrennt, hin und wieder gab es auch Zäune aus Holzlatten und Maschendraht, um die Schafe einzupferchen.
Als sie an einem solchen Zaun vorüberkamen, schrie Molly plötzlich auf und zwickte sich in den Arm. Hannah folgte ihrem Blick. Auf einem Zaunpfosten hockte ein großer schwarz-weißer Vogel.
»Guten Morgen, Herr Elster, wo ist Ihre Frau?«, murmelte Molly und kniff sich wieder. Der Vogel beachtete sie nicht und zog seinen Kopf vor dem Regen ein.
»Warum tust du das?«, fragte Hannah.
»Eine Elster bedeutet Unglück«, erklärte Molly. »Bei einer gibt’s Kummer, bei zweien gibt’s Glück, bei dreien gibt’s Hochzeit, bei vieren gibt’s Kinder, bei fünfen gibt’s Gold, bei sechsen gibt’s Hunger, bei sieben kommt die Hex’, weiter weiß ich nicht.«
»Das ist doch nur ein Vogel«, sagte Hannah und lachte.
»Dazu ein ziemlich hässlicher. Schau dir nur den grässlichen Schnabel an!«
Der Vogel hatte ein schwarz glänzendes Gefieder mit einem weißen Kragen. Unter seinen angelegten Flügeln lugten noch mehr weiße Federn hervor. Auch sein Schnabel war weiß und seine Augen schwarz wie Opale.
Molly lief ein Schauer über den Rücken, sie ließ den Vogel nicht aus den Augen.
»Unter seiner Zunge klebt ein Tropfen Teufelsblut«, behauptete sie.
Hannah schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist er deshalb so ruhig. Normalerweise schnattern Elstern doch in einem fort.« Als hätte der Vogel sie gehört, öffnete er seinen Schnabel und stieß ein lautes, melodisches Trillern aus. Hannah hatte noch nie einen so herrlichen Gesang gehört, so schön und voller Sehnsucht. Ihr traten die Tränen in die Augen.
Molly grüßte den Vogel ehrerbietig. »Das ist keine normale Schnatterelster«, flüsterte sie. »Bestimmt ist sie verzaubert.«
Die Elster heftete ihre glitzernden schwarzen Augen auf sie und Hannah gab Molly recht.
»Was sagtest du bedeutet eine Elster?«
»Bei einer gibt’s Kummer«, antwortete Molly.
Hannah sah über die graue, öde Landschaft und schauderte. So weit das Auge reichte, nur braunes spitzes Gras und dann und wann ein verwitterter Zaun oder eine Gruppe knorriger Bäume. Sie kam sich sehr klein vor. Die Elster hob ab und flog in den grauen Himmel.
Am Vormittag hörte es auf zu regnen und mittags hatte sich der Himmel aufgeklart. Die feuchte Erde dampfte im Sonnenlicht und über ihren Köpfen flatterten und tirilierten fremdartige Vögel. Das Gebirge sah zum Greifen nah aus und Hannah fasste neuen Mut.
Ein Dickicht aus Bäumen und Buschwerk streckte sich vor ihnen aus – das einzige Hindernis, das noch zwischen ihnen und dem Gebirge lag.
Sie kämpften sich durch verschlungene Zweige und dichtes Unterholz. Plötzlich bemerkte Hannah vor sich ein Glitzern. Sie stapfte weiter und schrie vor Schreck leise auf. Sie standen an einem Flussufer. Der Regen der vergangenen Nacht hatte ihn über die Ufer treten lassen, sodass das Wasser auf beiden Seiten bis in die Wiesen stand. Er war viel zu breit und zu tief, als dass sie hätten hindurchwaten können. Hannah ließ sich seufzend auf den Boden fallen.
»Wir müssen weitergehen, bis wir eine flachere Stelle finden«, sagte sie verzweifelt.
Molly hustete und Hannah blickte sie streng an. »Dass du mir keine Erkältung kriegst. Ich habe schon Sorgen genug.«
Molly unterdrückte den Husten und bemerkte: »Ich habe nur eine Fliege verschluckt.«
Hannah runzelte die Stirn.
»Wir könnten hier eine Pause machen und etwas essen«, sagte sie und packte Brot und Käse aus.
Beim Essen beobachteten sie den Unrat, der den Fluss hinuntergeschwemmt wurde – Baumstämme, Zweige und hin und wieder auch der Kadaver eines Tiers, das im Sturm umgekommen war.
»He, ihr!«, ertönte da eine Stimme. Hannah und Molly zuckten erschrocken zusammen.
In der Mitte des Flusses saß ein Mann in einem kleinen Boot. Er schlug wild mit seinen Rudern, um nicht abgetrieben zu werden.
»Kann ich den beiden Damen meine Hilfe
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