Scatterheart
das Unterholz und mieden Lichtungen und das offene Flussufer. Die Gegend war an dieser Stelle weniger dicht bewaldet, denn die Bäume fanden kaum Halt in der kargen Erde am steilen Berghang. Auf dem Boden wuchs kräftiges, hartes Gras, das Hannah die Beine aufkratzte.
Schon nach wenigen Minuten waren beide außer Atem. Sie legten eine kleine Pause ein und tranken einen Schluck Wasser. Hannah holte tief Luft, die Lunge tat ihr jetzt schon weh. Molly hustete wieder.
»Soll ich dir ein Märchen erzählen?«, fragte Hannah und lächelte Molly aufmunternd zu.
Das Mädchen nickte.
»Also gut«, begann Hannah und zwängte sich durch ein paar niedrig hängende Äste. »Das Märchen handelt auch von einem großen Wald. Einem Wald, der ganz dicht und voller Dornen ist, und in dem mitten darin eine Prinzessin schläft …«
Sie liefen immer weiter und irgendwann ging Hannah die Luft zum Erzählen aus. Am Spätnachmittag kamen sie an einen Holzschuppen ohne Fenster mit einer großen zweiflügligen Tür, die fest verriegelt war. Auf einem leicht verblichenen Schild stand:
Blue Mountains Western Road
LAGER
»Niemand da«, meinte Molly und schaute Hannah fragend an.
»Wahrscheinlich arbeiten sie weiter oben in den Bergen«, überlegte Hannah.
»Soll ich das Schloss aufbrechen?«, schlug Molly mit glänzenden Augen vor.
Hannah schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie, »darin gibt es nur Schaufeln und Seile und solches Zeug. So etwas brauchen wir nicht.«
Molly sah enttäuscht aus.
Die Straße machte einen verwaisten Eindruck. Sie bestand lediglich aus einem Streifen aufgewühlter Erde und Schotter, der sich durch das Unterholz am Berghang hinaufschlängelte und ungefähr zwölf Fuß breit war. Auf beiden Seiten war jeweils noch einmal ein vier Fuß breiter Streifen, auf dem Bäume und Büsche gerodet worden waren. In den Boden war ein Schild aus Brettern gerammt:
Blue Mountains Western Road
Durchgang VERBOTEN
Unbefugte ohne Sondergenehmigung des Gouverneurs
werden strafrechtlich verfolgt.
Hannah lauschte auf menschliche Stimmen, aber außer dem fernen Gurgeln des Flusses war nichts zu hören.
Sie sah Molly an und sagte: »Ich bin dafür, dass wir die Straße nehmen. Das ist viel einfacher, als sich ständig durch den Wald zu schlagen. Wir müssen nur aufpassen, dass wir niemandem begegnen.« Sie blickte zum Himmel hinauf. Die Sonne war hinter den hohen Bergen verschwunden, aber sie nahm an, dass es bis zum Einsetzen der Dunkelheit noch einige Stunden dauern würde. Entschlossen machten sie sich auf den Weg.
Auf der vorläufigen Straße lagen überall Geröll und Äste, an denen man sich leicht die Zehen anschlagen konnte.
Endlich hatten sie den Gipfel des ersten Gebirgsausläufers erreicht und drehten sich um, um zu sehen, wie weit sie gekommen waren. Die Berge warfen lange Schatten über die goldenen Felder der Emu Plains. Der Fluss schlängelte sich als dunkelbraunes, grün gesäumtes Band von Norden nach Süden. Hannah erkannte die Erhebung von Prospect Hill und eine Ansammlung gelber Gebäude, Parramatta. Sie fragte sich, ob James schon zurückgekehrt und ihr Verschwinden bemerkt hatte. Weiter im Osten konnte sie gerade noch Sydney ausmachen und dahinter den blau glitzernden Ozean.
In dieser Nacht fanden sie unweit der Straße Schutz unter einem großen Baum, dessen Rinde rissig und rau wie aufgesprungener Lehm war. Es war kalt, aber sie kuschelten sich unter ihrer Decke eng aneinander.
Am nächsten Tag setzten sie ihren Weg über die Straße fort. Die Bäume zu beiden Seiten wurden größer und mächtiger, das Unterholz dichter und grüner, ein Gewirr aus Büschen und Kriechgewächsen, das die Straße rechts und links wie eine massive Mauer begrenzte. Der intensive Waldgeruch wurde immer stärker, je weiter sie ins Gebirge vordrangen.
Hannah erzählte ihr sämtliche Märchen, die sie kannte – vom gestiefelten Kater, vom Mädchen Allerleirauh und von König Blaubart.
Molly hörte ihr aufmerksam zu, sprach jedoch wenig. Sie sah blass aus, ihr Atem ging schnell und sie blieb oft hinter Hannah zurück.
Am dritten Tag erzählte ihr Hannah das Märchen von Aschenputtel und den gläsernen Pantöffelchen zu Ende. Sie dachte an Thomas und stellte sich vor, wie er am Feuer saß und an einem Stock schnitzte. Dann hörte er Schritte, die sich näherten. Er packte sein Messer fester und ging in Angriffsstellung. Aber da tauchte Hannah aus dem Unterholz auf und das Messer fiel zu Boden.
Sie war so in ihrem Tagtraum
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