Schach mit einem Vampir
Gemeinschaft der Sekte unter diesem Oberbegriff zusammenfasse?“, warf der Professor ein und redete weiter. „Deshalb: Warum bringt man also das Blut und das Herz des Opfers einer Gottheit als schlichtende Opfergabe dar, aber die Seele versucht man, durch das Verbrennen des Körpers, seinem Zugriff zu entziehen? Und würden die Sektierer nicht genau durch solch ein Handeln den Zorn ihrer Gottheit heraufbeschwören? Wie gesagt, früher glaubte man, dass der Sitz der Seele, der Mittelpunkt des Bewusstseins, im Herzen liegt. Wäre es nicht eine gegensätzliche Gottheit, die Gut und Böse dann in einer Person vereinen müsste, wenn sie beide Handlungen tolerieren würde? Einerseits Verbannung und Vernichtung, andererseits vollkommene Erlösung. Da passt doch etwas nicht und es ist absolut widersprüchlich.“ Fraizer überlegte kurz und stimmte den Worten des Professors zu.
„Das Feuer dient also einem anderen, vielleicht profaneren Zweck? Es dient lediglich dazu, Spuren der grausamen Tat zu vernichten?“ Ein Lächeln umspielte die Lippen des alten Mannes. Sein Gesicht wirkte dadurch noch faltiger.
„Das war auch mein Gedanke, junger Mann. Ich sehe, Lewis hatte mit seinem Loblied über Ihren klugen Verstand recht. Doch lassen Sie uns noch einmal über eine weitere Version meinerseits sprechen. Verdrängen wir den Gedanken an eine Sekte. Legen wir die Huldigung an eine Gottheit beiseite. Stellen Sie sich vor, die Anfänge dieser Mordserie liegen vor einigen Hundert Jahren im heutigen Deutschland. Ich konnte eindeutige Verbrechensmuster des Schachspielers aus dieser Zeit recherchieren. Stellen Sie sich zum Beispiel ein Dorf in dieser Zeit vor. Man ist arm, kämpft ums nackte Überleben. Nahrung ist knapp und Krankheiten verbreiten sich. In der Nähe dieses Dorfes hat sich eine Gruppe angesiedelt. Es handelt sich um fahrendes Volk, ähnlich den Zigeunern. Sie fallen durch andersartiges Gebaren und Verhalten der Dorfgemeinschaft auf. Sie sondern sich von den herkömmlich denkenden Menschen ab, halten sich von ihnen fern. Dadurch fallen sie natürlich erst recht auf. Natürlich werden unsere Dorfbewohner neugierig auf die fremde Gemeinschaft. Jemand schleicht sich an und stört die Ruhe der Andersartigen … Vielleicht haben die Wandernden etwas zu verbergen? Etwas sehr Wertvolles, was die Begierde der anderen Mitmenschen wecken könnte?“
„Sie meinen, irgendein Außenstehender, also jemand aus dem Dorf, hätte etwas getan, was den Zorn der seltsamen Gemeinschaft entfesselt hätte? Etwas, was dann zu ihren abnormen Taten hätte führen können oder das Resultat eines etwaigen Diebstahls war? Sie beseitigten den Störenfried auf die uns bekannte, bestialische Art der Schachspielermordeund entzogen sich dadurch einer möglichen weiteren Störung oder Verfolgung und bewahrten so ihr Geheimnis vor den Andersdenkenden? Außerdem diente das grausame Schänden der Toten der Abschreckung weiterer Neugieriger und Diebe?“
„Richtig, Mr. Fraizer. Sie bleiben durch ihre extremen Maßnahmen geächtet. Vielleicht gerieten sie in einen Verdacht, die Morde begangen zu haben, doch sie wurden dessen nie überführt. Kein vernünftiger Mensch hätte sich noch in die Nähe der Wandernden gewagt. Ihre Abschreckung wäre ein voller Erfolg gewesen. Was sie jedoch vor den anderen zu verbergen hatten oder in unserer heutigen Zeit noch haben, bleibt ein großes Rätsel. Es muss ihnen jedoch so wichtig sein, dass sie es in Kauf nehmen, Menschen zu ermorden. Doch wenn sie dieses Verfahren bis heute beibehalten haben, dann nur, weil es sich seit den Anfängen bewährt hat. Doch wie gesagt, das ist alles nur reine Spekulation! Ich möchte den Punkt jedoch noch weiter spinnen: Auf dem Festland wurde es der Gemeinschaft schließlich doch zu gefährlich. Vielleicht stand man kurz davor, sie mit den Morden in Verbindung zu bringen. Vielleicht gab es eine Unachtsamkeit bei einem ihrer Verbrechen, das die Obrigkeit auf ihre Fährte brachte. Um sich einer Gefangennahme zu entziehen, ließ sich die Gruppe daraufhin nach England einschiffen und sich im Königreich ansiedeln. Eine neue Generation wuchs heran. Die Kinder wuchsen mit den althergebrachten Geheimnissen auf. Die fremden Neuankömmlinge ziehen natürlich wieder neugierige Blicke auf sich. Infolgedessen geschehen weitere Morde, das ganze Spiel wiederholt sich nun in England. Die Wanderung geht weiter. Die Reise setzt sich nach Südamerika fort. Wieder erlernen die Wandernden eine fremde
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