Schadrach im Feuerofen
sollen. Sie hätten einen Sitz in der ersten Reihe der Tribüne bekommen. Es war großartig, Mordechai, großartig und bewegend. Haben Sie das Staatsbegräbnis im Fernsehen verfolgt?«
»Selbstverständlich«, lügt Schadrach. »In… ah… in Jerusalem. Ich glaube, ich war zu dem Zeitpunkt in Jerusalem. Ja, großartig. Außerordentlich eindrucksvoll, ja.«
»Eindrucksvoll, ja«, bekräftigt der Vorsitzende und schließt einen Augenblick die faltigen Lider. Ein leises Lächeln breitet sich über seine Züge aus. »Man wird dieses Staatsbegräbnis niemals vergessen. Es war eines der großen Schauspiele der Geschichte. Die Assyrer hätten dem alten Sardanapal kein prächtigeres Begräbnis ausrichten können.« Er lacht heiser auf. »Wenn man schon nichts von der eigenen Beerdigung hat, sollte man wenigstens nicht versäumen, für andere ein prächtiges Begräbnis zu veranstalten. Finden Sie nicht, eh? Eh?«
»Ich wünschte, ich hätte dabeisein können.«
»Aber Sie waren in Jerusalem. Oder war es Istanbul?«
»Jerusalem, denke ich.« Er legt die Fingerspitzen an die Schläfen seines Patienten und übt einen leichten Druck aus. Der alte Mann verzieht schmerzlich das Gesicht. Gleich darauf Grunzt er auf, als die Fingerspitzen des Arztes hinter den Ohren und etwas darunter zudrücken.
»Da tut’s weh«, sagt er.
»Ja.«
»Seien Sie ehrlich, Doktor. Wie schlimm ist es wirklich?«
»Es sieht nicht so gut aus. Keine unmittelbare Gefahr, aber es gibt da ein Problem.«
»Erklären Sie es mir.«
Schadrach geht um das Bett, bis der andere ihn wieder sehen kann. »Gehirn und Rückenmark«, sagt er, »schwimmen buchstäblich in einer Flüssigkeit, die wir cerebrospinale Flüssigkeit nennen. Sie wird in hohlen Kammern im Inneren des Gehirns erzeugt, die als Ventrikel bekannt sind. Diese Flüssigkeit schützt und nährt das Gehirn, und indem sie in den das Gehirn umgebenden Raum abfließt, transportiert sie die Abfallprodukte des Stoffwechsels ab, die von der Gehirntätigkeit herrühren. Unter bestimmten Umständen können die Passagen von den Ventrikeln zu diesen äußeren, von der Gehirnhaut umgebenen Räumen verstopfen, und die cerebrospinale Flüssigkeit sammelt sich in den Ventrikeln an.«
»Und das ist, was in meinem Kopf geschieht?«
»Es scheint so.«
»Wie kann es dazu kommen?«
»Normalerweise ist eine Infektion oder ein Tumor an der Gehirnbasis die Ursache. Gelegentlich kommt es sozusagen von selbst zu Behinderungen beim Abfließen der cerebrospinalen Flüssigkeit, ohne daß Anschwellungen oder Entzündungen zu erkennen sind. Das mag dann mit dem Alterungsprozeß zusammenhängen.«
»Und welches sind die Wirkungen?«
»Bei Kindern vergrößert sich der Schädel, wenn die Ventrikel anschwellen. Das ist der Zustand, der als Hydrocephalus oder Wasserkopf bekannt ist. Der Erwachsenenschädel ist natürlich nicht in der Lage, sich auszudehnen, also muß das Gehirn den ganzen Druck ertragen. Im allgemeinen sind schwere Kopfschmerzen das erste Symptom. Darauf folgen Gleichgewichtsund Koordinationsstörungen, Gesichtslähmungen, allmählicher Verlust des Augenlichts, Ohnmachtsanfälle, die allgemeine Schwächung der Gehirnfunktionen, Krampfzustände, wie man sie sonst bei Epileptikern antrifft…«
»Und dann kommt es zum Tode?«
»Ja. Schließlich tritt der Tod ein.«
»Wie lang dauert es von den ersten Symptomen bis zum Tode?«
»Das hängt vom Ausmaß der Stauung, von der Lebenskraft des Patienten und vielen anderen Faktoren ab. Manche Leute leben jahrelang mit leichten oder im Entstehen begriffenen hydrocephalischen Störungen und merken es nicht einmal. Selbst akute Fälle können sich über Jahre hinziehen, unterbrochen von längeren Perioden der Besserung. Auf der anderen Seite kann die Erkrankung in ungünstig gelagerten Fällen innerhalb weniger Monate zum Tod führen, gelegentlich sogar noch viel schneller, etwa wenn sich ein Ödem bildet, eine Anschwellung, die die autonomen Systeme unterbricht.«
Diese Vorträge über Symptome und Prognosen haben den Vorsitzenden immer fasziniert, und auch jetzt zeigt sein Blick gespannte Aufmerksamkeit. Aber da ist noch etwas, ein Ausdruck von Bestürzung, der an Schrecken grenzt und den Schadrach nie zuvor beobachtet hat.
»Und in meinem Fall?« fragt der Vorsitzende.
»Natürlich werden wir eine Serie von Tests machen müssen. Aber auf der Basis dessen, was ich den Überwachungsinstrumenten entnehme, neige ich zu einem raschen Eingriff.«
»Ich habe nie
Weitere Kostenlose Bücher