Schadrach im Feuerofen
Aus freien Stücken.«
Avogadro sieht ihn stirnrunzelnd an. »Ja, natürlich. Was dachten Sie?«
Schadrach denkt an die Milizionäre, die ihn auf den verschiedenen Stationen seiner Weltreise keinen Tag aus den Augen gelassen haben, und er stellt sich vor, wie sie die Köpfe zusammensteckten und über ihren Protokollen und Berichten grübelten, die sie für ihre Vorgesetzten und die Kollegen in entfernten Städten anfertigen mußten. Er weiß, daß die wirkliche Situation nicht so harmlos und zufällig ist, wie Avogadro ihn glauben machen möchte. Mit seinem Entschluß, noch heute zurückzukehren, hat er Avogadro der Peinlichkeit enthoben, ihn in Gewahrsam zu nehmen und zwangsweise nach Ulan Bator zurückbringen zu müssen. Er hofft, der Sicherheitschef weiß ihm das zu danken.
Er sagt: »Wie schlimm sind die Kopfschmerzen des Vorsitzenden?«
»Ziemlich schlimm, soviel ich weiß.«
»Sie haben ihn nicht gesehen?«
Avogadro schüttelt den Kopf. »Nur am Telefon. Er sah müde und abgespannt aus.«
»Wann war das?«
»Vorgestern Abend. Aber von den Kopfschmerzen des Vorsitzenden ist schon die ganze Woche geredet worden.«
»Ich verstehe«, sagt Schadrach. »Ich dachte, es könnte so etwas sein. Darum habe ich beschlossen, vorzeitig zurückzukehren.« Er blickt Avogadro fest in die Augen. »Sie verstehen das, nicht wahr? Daß ich mich zum Abbruch meiner Urlaubsreise entschloß, sobald ich bemerkte, daß das Wohlbefinden des Vorsitzenden zu wünschen übrig läßt. Die Verantwortung für meinen Patienten verlangt es; sie hat immer mein Handeln bestimmt. Zu allen Zeiten. Das ist Ihnen sicherlich klar, oder?«
»Selbstverständlich«, sagt Avogadro.
23. Juni 2012
Wie, wenn ich gestorben wäre, ehe ich meine Arbeit getan hätte? Das ist durchaus keine müßige Frage. Ich bin eine wichtige geschichtliche Gestalt. Ich bin einer der großen Umformer der Gesellschaft. Wäre ich 1995, 1998 oder noch 2001 von der weltpolitischen Szene abgetreten, so wäre möglicherweise alles im Chaos untergegangen. Ich bin für diese neue Gesellschaft, was Augustus für das Römische Weltreich war, was Chin Shi Huang Ti für China war. Wie würde die Welt heute aussehen, wenn ich vor zehn Jahren zugrundegegangen wäre? Hätte die Revolution den Sieg davongetragen? Wahrscheinlich hätten sich die überlebten alten Kräfte da und dort noch länger an der Macht gehalten. Und weitere verlustreiche Kämpfe und Aufstände wären die Folge gewesen. Neue Ausbrüche biologisch-chemischer Kriegführung und zuletzt die Selbstausrottung der Menschheit. Alles das hätte leicht geschehen können, wenn meine Person in jenen kritischen Augenblicken aus der Geschichte entfernt worden wäre. Ich bin der Retter der Welt.
Es klingt unerträglich großspurig. Retter der Welt! Heros, Mythengestalt. Ich, Krischna, ich, Quetzalcoatl, ich, Dschingis Khan H. Mao. Und doch kann ich dies mit Recht von mir sagen, mit mehr Recht als irgendein anderer, denn ohne mich könnte die ganze Menschheit heute ausgelöscht sein, und das ist eine neue Qualität in der Geschichte der Erlöser-Mythen. Einigung der Menschheit, Aufbau der neuen Gesellschaft, Kampf gegen die Folgen des Viruskriegs – ja, dies könnte inzwischen sehr leicht ein toter Planet sein, wenn ich vor fünfzehn Jahren ins Grab gesunken wäre. Die Geschichte wird es anerkennen. Und doch, was macht es aus? Ich werde nicht in Vergessenheit geraten, wenn ich sterbe – ich werde niemals in Vergessenheit geraten, aber ich werde sterben. Früher oder später werden meine Ausflüchte und Hinhaltemanöver sich erschöpfen. Weder Talos noch Phönix oder Vatara können mich für unbegrenzte Zeit erhalten. Irgend etwas wird versagen, oder der Überdruß wird mich bezwingen und bewirken, daß ich meinem Leben selbst ein Ende mache, und was wird es nach meinem Tode bedeutet haben, daß ich die Welt rettete? Was ich getan habe, ist für mich letztendlich bedeutungslos. Die Macht, die ich erlangt habe, ist letztendlich leer. Ich rede mir ein, die Einigung der Menschheit und die Verwirklichung der Ziele unserer Bewegung hätten eine Bedeutung, aber das ist nicht der Fall; nichts ist von Bedeutung. Das Leben des Menschen – und folglich das Leben der gesamten Menschheit – ist ohne tieferen Sinn. Diese Philosophie ist unter den jungen Leuten weit verbreitet, aber auch unter den sehr alten. Ich muß so tun, als sei mir die Macht wichtig. Ich muß vorgeben, daß der Sieg der fortschrittlichen Kräfte leuchtende
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