Schadrach im Feuerofen
erwarten wir alle unser Urteil.«
Den ganzen Nachmittag verfolgt ihn die Vision des armen, getäuschten Mangu, wie er die letzten Stunden seines Lebens verbringt, aller Selbsttäuschungen ledig, konfrontiert mit einer kalten, unbarmherzigen Wirklichkeit. Warum hatte Katja Lindman ihn aufgeklärt? Glaubte sie wirklich, ihm helfen zu können? Hatte sie gehofft, durch ihn den alten Tyrannen stürzen zu können? Nein. Sie muß gewußt haben, daß ein Mann wie Mangu, dem Verläßlichkeit und Loyalität immer höchstes Gebot gewesen waren, an einer solchen schnöden Täuschung persönlich zerbrechen mußte.
Das hätte sie sehen müssen.
Eine Stunde nach der Begegnung mit Katja Lindman verfällt Schadrach auf eine weitere Möglichkeit. Katja Lindman hatte als die gute Schachspielerin, die sie ist, alle Konsequenzen ihres Tuns vorausgesehen. Erfährt Mangu die Wahrheit, so reagiert er, indem er seinen Körper auf diese oder jene Weise dem Zugriff des Vorsitzenden entzieht. Kein Mangu, und das Projekt Avatara erleidet einen schweren Rückschlag. Nicki Crowfoot, Katja Lindmans Rivalin, ist besiegt und entmutigt. Ihr Projekt, um viele Monate zurückgeworfen, verliert das Primat an Katja Lindmans Projekt Talos. Schadrach Mordechai, der sich auf unerklärliche Weise bereits von Nicki entfremdet hat, wird zwangsläufig ganz zu Katja hinübergezogen, deren Stern im Aufsteigen begriffen ist. Natürlich. Und der ganze Rest, Katjas vorbildliches Mitgefühl mit den glücklosen Opfern der Massenverhaftungen, Katjas Schaustellung von Kummer um den armen, betrogenen Mangu – alles Teil des Spiels. Schadrach schaudert. Selbst im rauen und unberechenbaren Klima, das in der Umgebung des Vorsitzenden herrscht, scheint ihm dies monströs, und Katja Lindman steht als eine verderbenbringende und fremdartige Gestalt vor seinem inneren Auge, hinreichend bösartig und verschlagen, um eine geeignete Partnerin für Dschingis Khan II. Mao abzugeben. Oder, wenn nicht eine Partnerin, dann jedenfalls ein passendes Gehäuse für den fintenreichen und brutalen Verstand des alten Ungeheuers. Ja! Einen Augenblick lang spielt Schadrach ernstlich mit dem Gedanken, dem Vorsitzenden Katja Lindmans Körper als Ersatz vorzuschlagen. Doch ein noch immer dunkles Motiv bereitet ihm weiter Kopfzerbrechen: Warum hat Katja Lindman ihm alles das enthüllt? Wenn sie ein so berechnendes Ungeheuer ist, würde sie dann nicht die Wahrscheinlichkeit einkalkuliert haben, daß er sie früher oder später als das erkennen würde, was sie ist? Könnte das am Ende ihr Ziel gewesen sein? Aber warum? Die Vielfalt der Spekulationen macht ihn schwindeln.
Er möchte sich Nicki zuwenden, aber sie zeigt sich weiterhin abweisend, und er hat seit zwei oder drei Tagen nicht mit ihr telefoniert. Nun ruft er sie unter dem Vorwand an, daß er sich über die Fortschritte des Projekts Avatara ins Bild setzen lassen möchte, aber auf der Mattscheibe der Sprechanlage erscheint einer ihrer Assistenten, ein Doktor Eis aus Frankfurt. Eis, ein klassischer Teutone mit blaßblauen Augen und weichem, goldblondem Haar, zeigt bei Schadrachs Anblick eine seltsame kleine Reaktion von Überraschung, Schrecken oder Abneigung, erholt sich aber rasch und begrüßt ihn mit kühler Höflichkeit.
»Kann ich Doktor Crowfoot sprechen?« fragt Schadrach.
»Ich bedaure, Doktor Crowfoot ist nicht hier. Vielleicht kann ich Ihnen helfen?«
»Wird sie am Nachmittag erreichbar sein?«
»Doktor Crowfoot kommt heute nicht mehr ins Labor, Doktor Mordechai.«
»Ich muß sie dringend sprechen.«
»Sie ist in ihrer Wohnung, Doktor. Eine Unpäßlichkeit. Sie hat darum gebeten, daß man sie nicht stört.«
»Sie ist krank? Was fehlt ihr denn?«
»Möglicherweise eine leichte Grippe. Fieber, Kopfschmerzen. Sie beauftragte mich, Ihnen zu sagen, wenn Sie anriefen, daß wir noch immer das Problem der Rekalibrierung studieren, und daß es darüber hinaus gegenwärtig nichts zu melden gibt.«
»Danke, Doktor Eis.«
»Bitte, Doktor Mordechai«, erwidert Eis knapp.
Schadrach unterbricht die Verbindung und wählt die Nummer von Nickis Wohnung. Nein. Er hat genug von Ausflüchten, Entschuldigungen und Verzögerungen. Er wird einfach zu ihr gehen und uneingeladen läuten.
Sie läßt ihn lange im Korridor stehen, bevor sie reagiert, obwohl sie wissen muß, wer draußen steht. Dann sagt sie: »Was willst du, Schadrach?«
»Eis sagte mir, du seist krank.«
»Es ist nichts Ernstes. Nur eine kleine Grippe oder eine
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