Schadrach im Feuerofen
revolutionärer Kämpfer über den Tod des Individuums hinaus in dem revolutionären Geist weiterlebe, den er mitgeschaffen hat, wird deutlich, daß er vor sich selbst die andere, weniger metaphorische Art der Unsterblichkeit vorzieht. Er starrt finster vor sich hin und seufzt. Er gibt seine Zustimmung zu der neuen chirurgischen Unterbrechung seiner Amtsgeschäfte.
Warhaftig wird hinzugezogen. Es gibt Konferenzen; Termine werden eingeplant; Einzelheiten des Eingriffs werden dem Vorsitzenden erläutert. Die Bauchschlagader wird über und unter dem Aneurysma abgeklemmt werden müssen, um den Blutkreislauf vorübergehend zu unterbrechen, während Warhaftig das Aneurysma entfernt und eine Kunststoffprothese einsetzt.
»Nein«, widerspricht der Vorsitzende. »Keine Prothese. Sie können ein Stück Schlagader übertragen, nicht wahr? Bei Arteriengewebe ist die Unverträglichkeit kein großes Problem. Es ist wie das Flicken einer Schlauchleitung.«
Warhaftig sagt: »Aber Kunststoffarterien haben sich als völlig…«
»Nein, ich habe schon genug Plastik in mir. Und die Organfarmen sind voll von neuem Material. Geben Sie mir eine richtige Bauchschlagader.« Ein spitzbübisches Lächeln blitzt in den Augen des alten Mannes. »Geben Sie mir eine Bauschschlagader von einem der in jüngster Zeit überführten Verschwörer.«
Warhaftig blickt zu Schadrach Mordechai, der die Achseln zuckt.
»Wie Sie wünschen«, sagt der Chirurg.
Bald darauf ißt Schadrach mit Katja Lindman zu Mittag. Nach dem Essen schlendern sie über den Sukhe Bator-Platz. Seit ihrem gemeinsamen Ausflug nach Karakorum hat er mehr Zeit als üblich mit Katja verbracht, wenn er auch nicht mehr mit ihr geschlafen hat. Er findet sie jetzt sanfter, weniger bedrohlich und ist sich nicht klar darüber, ob sie sich geändert hat oder nur seine Einstellung zu ihr; daß er aufwachte und sie schluchzen sah, mag etwas damit zu tun gehabt haben. Jedenfalls ist sie so warm und freundlich geworden, daß er befürchtet, sie könne sich sogar in ihn verliebt haben. Andererseits fühlt er bei ihr eine verborgene innere Reserve, eine undurchdringliche Zone, die den Kern ihres Wesens umschließt und ihm als die Feindin wahrer Liebe erscheint. In der Blütezeit seiner Beziehung zu Nicki Crowfoot hatte es in ihr keine solchen unzugänglichen Räume gegeben.
Die Mittagssonne strahlt, die Luft ist mild, der Tag warm; gelbe Blüten leuchten in den Terrakottavasen mit Stauden und Büschen, die den Platz schmücken. Katja geht neben ihm, aber ohne Tuchfühlung. Sie hat bereits von der neuen Krise gehört. Neuigkeiten aller Art machen im Regierungspalast schnell die Runde, besonders aber solche, die die Gesundheit des Vorsitzenden betreffen. »Erkläre mir, was ein Aneurysma ist«, sagt sie. Er gibt ihr eine umständliche Beschreibung und schildert die bevorstehende Operation. Inzwischen sind sie in den Hof des Regierungspalastes gekommen und stehen nicht weit von der Stelle, wo Mangu aus dem Fenster stürzte. Als er fertig ist, blickt Schadrach an der Fassade hinauf und versucht sich vorzustellen, wie zwei oder drei Meuchelmörder hinter Mangu in die Tiefe springen, wo wartende Mitverschwörer herbeieilen, um die zerschmetterten Leichen aufzusammeln und fortzuschaffen. Wahnsinn, denkt er. Und das ist die Theorie, die der Vorsitzende allen Ernstes vertritt. Heller Wahnsinn.
Er sagt: »Bisher soll es fast dreihundert Verhaftungen gegeben haben. Siebenundneunzig Personen wurden zu den Organfarmen geschickt. Letzte Woche war Roger Buckmaster noch gesund und lebendig, so sehr sein eigener Herr wie jeder von uns. Morgen werden wir vielleicht ein Stück aus seiner Bauchschlagader nehmen, um die des Vorsitzenden damit zu flicken. Und die Verhaftungen gehen weiter.«
»Ich weiß. Avogadros Leute bringen die Verhafteten bei Tag und Nacht. Wann wird dieser alte Mann sich zufrieden geben?«
»Wahrscheinlich erst dann, wenn er beschließt, daß alle Verschwörer gefaßt worden sind.«
»Verschwörer!« sagt Katja beißend. Für einen Moment hat sie wieder die alte, beängstigende Heftigkeit. »Welche Verschwörer? Welche Verschwörung? Die ganze Geschichte ist doch verrückt. Mangu hat sich selbst das Leben genommen.«
»Dann glaubst du auch, daß es Selbstmord war?«
»Glaube? Ich weiß es«, sagt sie und wirft ärgerlich den Kopf zurück.
»Du redest, als wärst du dabei gewesen, als er sprang.«
»Sei nicht albern.«
»Wie kannst du wissen, daß es Selbstmord war?«
»Ich weiß es
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