Schadrach im Feuerofen
ihm nichts aus, ob er tatsächlich der Körperspender sein werde oder nicht, entscheidend sei für ihn der Vertrauensbruch. Der Vorsitzende habe ihn glauben machen, er sei sein erklärter Nachfolger, während er insgeheim ein Projekt vorantreibe, das auf seine, Mangus, Ermordung hinauslaufe. Das sei das Schmerzliche daran, sagte er, nicht der Gedanke an den Tod, nicht die Vorstellung, seinen Körper zugunsten des Vorsitzenden aufzugeben. Er werde dem alten Mann niemals vergeben, daß er ihn getäuscht und wie einen Tölpel behandelt habe. Und dann stand er auf, sagte gute Nacht und ging. Was danach war, weiß ich nicht. Ich nehme an, er grübelte die ganze Nacht darüber nach, dachte daran, wie er getäuscht worden war. Gut möglich, daß er keine Chance für einen Putschversuch sah, weil er erkennen mußte, daß viele wichtige Leute seit längerer Zeit von dem ihm zugedachten Schicksal wußten, ohne für ihn eingetreten zu sein. Und als es Tag wurde, stürzte er sich aus dem Fenster.«
»Ja. Ja«, sagt Schadrach. »Das leuchtet ein. Es gibt Wahrheiten, die man nicht ertragen kann.«
»Also gibt es keine Verschwörer. Die Verschwörung existiert nur im paranoiden Geist des alten Mannes. Diese dreihundert Verhafteten sind unschuldig. Gewiß, sie sind Gegner des Systems und insofern vielleicht mit Recht als Staatsfeinde zu bezeichnen, aber am Tode Mangus sind sie alle unschuldig. Wie viele von ihnen sind bisher zu den Organfarmen geschickt worden? Siebenundneunzig? Lauter Unschuldige. Ich sehe, was geschieht, aber ich kann nichts tun. Ich kann nicht den Mund aufmachen und die Wahrheit sagen. Es heißt, der Vorsitzende sei nicht bereit, die Selbstmordhypothese auch nur in Erwägung zu ziehen.«
»Er will, daß es eine Verschwörung war, ja«, sagt Schadrach. »So kann er aus dem Tod Mangus noch politisches Kapital schlagen. Die Verfolgung und Bestrafung dieser Leute macht ihm Spaß.«
»Und wenn ich öffentlich erzählte, was ich gerade dir gesagt habe, würde der alte Mann mich töten lassen.«
Schadrach nickt. »Ja, du würdest morgen in der Organfarm sein. Oder vielleicht würde er dich als den neuen Körperspender für das Projekt Avatara auswählen.«
»Das ist kaum wahrscheinlich«, sagt Katja.
»Ich würde es seinem skurrilen Humor zutrauen. Dein loses Mundwerk hat ihn um Mangus Körper gebracht, also wirst du Mangus Ersatz. Sehr passend.«
»Sei nicht albern, Schadrach. Das ist unvorstellbar. Er ist ein Mann, und er ist Mongole. Er sieht sich als die Reinkarnation des Dschingis Khan. Nie würde er seine Persönlichkeit in den Körper einer Frau verpflanzen lassen.«
»Warum nicht? Die alten Mongolenkhans waren keine sturen Verfechter des Patriarchats, Katja. Soviel ich weiß, ließen die Mongolen sich dann und wann von Regentinnen beherrschen, wenn die männliche Linie ausstarb. Natürlich würde er Anpassungsschwierigkeiten haben. Die Veränderung des Geschlechts mit allen körperlichen Reflexen, den ungezählten kleinen männlichen Gewohnheiten, die er sich würde abgewöhnen müssen…«
»Hör auf, Schadrach. Daß der alte Mann meinen Körper nehmen würde, ist keine ernstzunehmende Möglichkeit.«
»Aber es ist eine amüsante Vorstellung.«
»Ich finde sie nicht amüsant.« Sie bleibt stehen und sieht ihn an. Ihr Gesicht ist blaß und gespannt. »Was können wir tun? Wie können wir diesen Verhaftungen ein Ende machen?«
»Es gibt keine Möglichkeit. Man muß den Dingen ihren Lauf lassen.«
»Angenommen, dem Vorsitzenden wird ein anonymes Papier zugeschickt, in dem ihm lediglich gesagt wird, Mangu habe erfahren, was für ein Schicksal ihm zugedacht gewesen sei, eine ungenannte Person habe ihm enthüllt, daß er als Körperspender für den Vorsitzenden dienen solle…«
»Nein. Entweder würde der alte Mann dieses Papier ignorieren oder eine großangelegte Vernehmungsaktion starten, in deren Verlauf jeder durch die Mangel gedreht würde, der Kenntnis vom Avatara-Projekt gehabt haben könnte.«
»Gut, das ist wahrscheinlich richtig. Aber was soll geschehen, wenn die Verhaftungen nicht aufhören?«
Schadrach zuckt die Achseln. »Avogadro findet bald keine Verdächtigen mehr. Was es in der Mongolei an aktiven politischen Gegnern gibt, hat er allmählich beisammen. Die Aktion nähert sich ihrem Ende.«
»Und die Gefangenen, die noch nicht verurteilt sind?«
Schadrach Mordechai seufzt. »Denen können wir nicht helfen. Sie sind verloren. Da ist nichts zu machen, Katja. Auf diese oder jene Weise
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