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Schadrach im Feuerofen

Schadrach im Feuerofen

Titel: Schadrach im Feuerofen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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des populären Toten. Der Prozeß der Kanonisierung macht Fortschritte; Tag für Tag wird der tote Volksheld mit neuen Plakaten, Transparenten und hymnischen Lobpreisungen in den Medien der Bevölkerung nahegebracht. Und das ohne Zweifel überall auf der Erde, nicht nur in der Hauptstadt. Als Toter hat Mangu eine Macht und eine Allgegenwart erreicht, die dem Lebenden immer versagt geblieben war. Er ist in der Tat zu einem gefallenen Halbgott geworden, er ist Baidur, Adonis, Osiris, das Frühlingsschlachtopfer, an dessen Wiederauferstehung zu zweifeln nicht erlaubt ist.
    Schadrach schlendert zum Fluß, gelöst und heiter, pfeift eine romantische Melodie – ein Thema von Rachmaninoff, wie er vermutet. Bald bemerkt er, daß ihm ein Mann folgt, der kurz nach ihm aus der Werkstatt gekommen ist. Es beunruhigt ihn nicht. Einstweilen beunruhigt ihn überhaupt nichts. Er ist von allem bezaubert, von der Steppe, den Hügeln, der kühlen Frühlingsluft, der Idee, daß jemand ihm folgt. Sogar die alberne Allgegenwart von Mangus Gesicht vor dem Hintergrund der mongolischen Trauerfarbe, die gelb ist und den Schaustellungen ein seltsam helles und festliches Gepräge gibt, findet er angenehm und passend, als ob in Kürze eine Parade zu Mangus Ehren stattfinden würde, gefolgt von der glorreichen Rückkehr des Stellvertreters. Schadrach lächelt. Er beugt sich über die Steinbalustrade der Uferpromenade, um das ungebärdige Rauschen und Tosen des Flusses zu bewundern, der vom Frühjahrshochwasser angeschwollen ist und wirbelnd und gischtend daherkommt. Schadrach stellt sich das Netzwerk der Rinnsale und munteren Bäche vor, die glasklar von den Gebirgshöhen zu Tal springen, sich vereinigen und dieses trockene Land durchziehen, ein riesiges Arteriensystem, das dem Leben dient, und die Vorstellung erfreut den Arzt in ihm. Wenn er genau hinhört, so sagt er sich, kann er das Atmen des Planeten hören, und sogar den Rhythmus seines Herzschlags, lub-dub, lub-dub, lub-dub.
    Der Mann, der ihm nachgegangen ist, erscheint jetzt auf der Uferpromenade und stellt sich neben Schadrach an die Balustrade. Seite an Seite sehen sie schweigend dem vorbeirauschenden Wasser zu. Nach einigem Zögern riskiert Schadrach einen verstohlenen Seitenblick und entdeckt, daß der Mann Franco Cifolia ist, der Kommunikationsexperte, der unter anderem Kontrollraum 1 entworfen hat. Cifolia ist ein kaum mittelgroßer, rundlicher, tüchtiger Mann von vielleicht fünfzig Jahren, normalerweise gutmütig und gesprächig, und sein gegenwärtiges uncharakteristisches Verhalten muß etwas bedeuten. Schadrach weiß nicht, ob Cifolia wie er selbst in der Werkstatt gewesen ist, denn die ungeschriebenen Regeln verlangen, daß jeder für sich bleibt und sich während der Meditation nicht um die anderen kümmert. Jetzt sind es andere Rücksichten, die ihm den Mund verschließen. In dieser fast lückenlos überwachten Welt ist es üblich geworden, Gespräche zu führen, ohne es sich nach außen hin anmerken zu lassen. Viele Male hat Schadrach längere Konversationen mit Partnern geführt, die während des Gesprächs in eine andere Richtung blickten oder ihm sogar den Rücken zukehrten. Darum fährt er fort, sinnend den Fluß zu betrachten, ohne Cifolia auch nur zu grüßen. Er wartet.
    Nach einer Weile sagt Cifolia unvermittelt und ohne Schadrach anzusehen: »Ich verstehe nicht, warum Sie noch immer hier herumhängen.«
    »Wie bitte?«
    »In Ulan Bator. Warum warten Sie wie ein Lamm, bis die Axt fällt? Ich an Ihrer Stelle würde mich verstecken, Mordechai.«
    »Sie wissen also…?«
    »Ich weiß Bescheid, ja. Mehrere Leute wissen es. Was werden Sie tun?«
    »Ich weiß nicht. Vielleicht unternehme ich einstweilen gar nichts und überdenke meine Lage. Es gibt eine Menge einzuschätzen und zu bewerten.«
    »Zu bewerten? Was soll es da noch zu bewerten geben? Aber natürlich, es ist verständlich, daß Sie so etwas sagen!« Obwohl Cifolia offenkundig bemüht ist, unauffällig zu erscheinen, kann er seine Emotionen nicht zügeln; er hebt die Stimme und gestikuliert leidenschaftlich mit beiden Händen. »Wissen Sie, Sie haben nie in die Umgebung des alten Tyrannen gepaßt. Sie sind nicht verrückt genug, um sich in seinem Umkreis zu halten. Sie sind so ruhig, so vernünftig, immer wollen Sie alles überdenken, ja, Sie wollen noch innehalten und die Situation einschätzen, wenn man Ihnen schon das Messer an die Kehle setzt. Wie sind Sie jemals hier gelandet, Mann? Haben Sie sich schon

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