Schadrach im Feuerofen
Tode, die Konfrontation mit dem Mörder, die Erkenntnis des Todes, wenn er mit dem Messer oder der Schußwaffe auf mich zukommt. Möge es eine Bombe sein, wenn es kommt. Möge es ein sofort wirkendes Gift in meiner Suppe sein. Aber es wird keine Attentäter geben. Nur noch selten verlasse ich den Palast, und hier bin ich zu gut bewacht. Der Fehler war, daß Mangu nicht den gleichen Schutz genoß. Andererseits war er nicht ich, nur der Stellvertreter; sein Verlust war für ihn nicht, was mein Verlust für mich sein wird. Der Gedanke an das Sterben ist mir fremd. Mein Geist ist zu groß, ich nehme im Bewußtsein der Menschheit einen zu großen Platz ein; die Subtraktion meiner Person von der Welt ist mehr, als die Welt hinnehmen kann. Ganz gewiß mehr, als ich hinnehmen kann.
Aber warum all diese krankhaften Gedanken? Seltsam, bedenkt man, wie gesund ich mich fühle. Eine gewaltige Aufwallung von Vitalität seit der Aortaverpflanzung. Während andere von chirurgischen Eingriffen geschwächt werden, gedeihe ich daran. Ich sollte mich jede Woche operieren lassen. Ja. Doch trotz dieses Wohlbefindens spielt der Tod mit meiner Seele, wenn ich schlafe. Manchmal denke ich, daß das Spiel mit Todesfantasien eine Unterhaltung sei, ein köstlich-schauriger Sport. Wir brauchen Spannung in unserem Leben, um dieses unerträgliche Vorrücken der Existenz zu Verfall und Tod zu ertragen. Tag folgt auf Tag, Sonnenaufgang, Mittag, Sonnenuntergang, Dunkelheit: es kann einen erdrücken, es kann einen zur Verzweiflung treiben. Daher die freudige Erleichterung, wenn man am Ende aller Wahrnehmung angelangt ist, das heißt, am Ende aller Dinge. Es kann Freude bereiten, über das Traurige nachzudenken. Besonders aber nicht ausschließlich dann, wenn es andere betrifft. Welch eine große Rolle spielt im Leben der Menschen das Vergnügen, das aus der Betrachtung fremden Unglücks bezogen wird! Man geht nicht fehl, wenn man das verflossene traurige Jahrhundert das goldene Zeitalter der Schadenfreude nennt. Wir haben die düstere Ekstase des Lebens am Ende einer Ära kennen gelernt, die rauschhafte Begeisterung an Krieg, Untergang und Zusammenbruch. Die Beschießung der Kathedralen 1914, die vielen hunderttausend Soldaten, die vor Verdun und im Schlamm von Flandern starben, die Massaker der russischen Revolution, die erste große Wirtschaftskrise, der darauffolgende Krieg, Auschwitz, Hiroshima, die Zeit der Attentate und politischen Morde, der Befreiungskriege und der sozialen Umwälzungen, der bakteriologische Krieg, die Organzersetzung… So viel gibt es, worüber man sich die Augen ausweinen möchte, obgleich es aus der Sicht des Überlebenden immer andere waren, die mehr gelitten haben als man selbst, was die Tränen ein wenig versüßt. Neun dunkle Jahrzehnte, und ich habe sie alle durchlebt und warum nicht Distanz gewinnen und das Prinzip nach innen kehren? Warum nicht über den Tod Dschingis Khans II. Mao weinen? Trauern ist genußreicher als Sterben. Laßt mich in der Fantasie mein eigenes beklagenswertes Dahinscheiden genießen! Wie sehr bedauere ich meinen Hingang! Ich bin mein eigener zutiefst betroffener Trauergast. Ich liebe diese Fantasien; sie erlauben mir eine außerordentlich intensive Form des Selbstmitleids. Aber sterbe ich tatsächlich? Ich rufe meinen Leibarzt. Er erläutert mir meine morgendlichen Ablesungen. Alles normal, alles gesund. Ich bin ein Phänomen. Ich werde heute nicht aus dieser Welt gehen. Lang lebe der Vorsitzende! Ein langes Leben dem Vater der Revolution!
Bela Horthy nimmt ihn auf dem Korridor beiseite und sagt mit gedämpfter Stimme: »Cifolia sagt mir, daß Sie bleiben wollen.«
»Einstweilen«, antwortet Schadrach. »Ich muß denken.«
»Denken ist nützlich, ja. Aber warum das Denken in Ulan Bator besorgen?«
»Ich lebe nun mal hier.«
»Einstweilen«, sagt Horthy. Er wendet sich Schadrach voll zu und blickt ihm offen in die Augen. Seine vorquellenden Augen blicken besorgt. Er muß zu den Verschwörern gehören, denkt Schadrach, und die Erkenntnis überrascht ihn kaum noch. »Laufen Sie, Mordechai«, raunt Horthy ihm zu.
»Was nützt es? Man wird mich fangen.«
»Nur wenn Sie leichtfertig sind. Buckmaster ist nach wie vor auf freiem Fuß.«
»Haben Sie keine Angst, so etwas zu sagen? Wo hier hinter jeder Tapete…«
»Abhörwanzen stecken können?«
»Ja.«
»Alles wird überwacht. Alles wird auf Band genommen. Na und? Wer kann alle die Bänder abhören? Der Sicherheitsdienst geht in der
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