Schädelrose
Komm rein!«
Noch geschminkt und in seinem billigen Kostüm trat Robbie
beiseite, um sie vorbeizulassen. Er schenkte Caroline ein
freundliches, unpersönliches Lächeln.
»Das ist Caroline Bohentin«, sagte Joe.
»Hallo«, sagte Robbie und streckte ihr die Hand
hin. »Ich bin Robbie Brekke.«
Sie merkte, wie sie seine Finger mit ihrer freien Hand
ergriff, während sich die andere um die von Joe spannte, und
sah sie auf einmal alle drei von fern, wie aus großer
Höhe. Miteinander verbunden.
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Caroline.«
»Dein Auftritt hat uns gefallen«, sagte Joe.
Die blauen Augen funkelten. Stumm sah Caroline die
Vitalität und die unbefangene Freude darin. Und hinter der
Freude die nicht mehr vorhandene Tiefe. Das, was fehlte. Was fort
war. Was man entfernt hatte. Was war es? Nicht Intelligenz. Auch
nicht Charme.
»Danke«, sagte Robbie. »Ich war froh,
daß ich die Rolle gekriegt habe. Gehen Sie viel ins
Theater, Caroline?«
Sie nickte, unfähig zu sprechen. Robbie wartete
höflich. Als sie nichts weiter sagte, wandte er sich wieder
an Joe. »Vielen Dank für das Buch. Es hilft mir
sehr.«
»Gern geschehen.«
»Joe hat mir ein Buch gemacht«, sagte Robbie zu
Caroline. »Mit Bildern von den Leuten, die ich kenne. Wenn
ich sie ein paar Wochen nicht sehe, vergesse ich sie. Ich
weiß nicht, ob Joe Ihnen erzählt hat, daß ich
das Korsakow-Syndrom habe?«
Caroline schüttelte den Kopf.
»Ja«, sagte Robbie. »Eine milde Form. Ich
kann mich ein paar Wochen an Dinge erinnern, bevor sie
verblassen. Auf meine Schauspielerei wirkt sich das
selbstverständlich nicht aus, weil ich meinen Text jeden Tag
durchgehe. Aber ich vergesse Menschen und Ereignisse.« Er
lächelte sie an. Seine blauen Augen waren heiter und
gelassen. »Ist wirklich kein großes Problem. Ich bin
dran gewöhnt. Ich hab’s von Geburt an.«
In Carolines Kehle formte sich wieder ein Laut. Die Tür
der Garderobe ging auf und weitere Leute drängten sich
herein, die alle zugleich redeten. Sie konnte die Worte nicht
unterscheiden, nichts davon ergab einen Sinn. Dann wurde sie
durchs Foyer gezerrt, Patrick Shahid war noch da, sie war
draußen auf der Straße, betrat zwischen den beiden
Männern eine Bar.
Der Nebel hob sich. »Joe – ich bin mit meinem
Luftwagen hier. Wo ist Jason? Und der
Leibwächter?«
»Sie haben Sie weggeschickt«, erwiderte
Shahid.
»Ich?« Sie betastete ihren Hals; die
Diamantenkette war fort.
»Sie haben ihnen Ihren Schmuck gegeben, damit sie ihn
nach Hause bringen. Nehmen Sie hier Platz, Caroline. Sie auch,
Joe. Hier ist es ruhig.« Die Bar war von Nischen umgeben,
die mit rotem Samt ausgeschlagen und durch prätentiöse
hölzerne Stege auf rotem Sand verbunden waren. Sie sank
neben Shahid nieder. Joe hatte gegenüber von ihnen an dem
winzigen Tisch Platz genommen.
»Das ist schon okay, Caroline«, sagte Joe.
»Als ich das erste Mal mit ihm geredet habe, ging’s
mir genauso.«
»Er ist wie… ein Bild. Auf zwei Dimensionen
geschrumpft, nicht mehr dreidimensional. Brillante Farbe,
geschickte Perspektive, Tönung und Gleichgewicht und all
diese schönen Dinge, aber wenn man’s berührt,
fühlt es sich trotzdem flach an…«
Joe leugnete es nicht. »Die einzige Alternative war, ihn
in dem Zustand zu lassen, in dem er in Wyoming war. Er blieb drei
Monate lang so, wissen Sie, jedesmal, wenn sie ihn aus der
Sedierung geweckt haben.«
»In Pirellis >Erinnerungsschleife<.«
»In seiner eigenen Erinnerungsschleife. Nicht weinen,
Caroline.«
»Ich weine nicht.«
»Na schön, Sie weinen nicht.« Joe ließ
ihre Hand los. Kurz darauf fügte er hinzu: »Ich
glaube, das künstlich induzierte Korsakow ist der Grund,
daß er so ein guter Schauspieler ist. Die Rolle ist so
real, so lebendig für ihn, weil nichts anderes sehr real
ist. Nur die Identitäten, die er in seinem Kopf erfindet,
und das kann er nicht so gut wie Aischylos. Also nimmt er die.
Heute abend war er Prometheus.«
»Und wer sind Sie heute abend, Joe?« fragte
Shahid. »Wer sind Sie jeden Abend? Immer noch ein
Anwalt?« Seine Stimme war leise und eindringlich; Caroline
drehte überrascht den Kopf, um sein Gesicht zu sehen. Shahid
blickte Joe über den Tisch hinweg hungrig an. Seine dunklen
Augen waren wie Laser.
»Ich bin vor neun Monaten bei McLaren und Geisler
ausgestiegen«, sagte Joe ruhig, »bis auf ein paar
Fälle, die für mich eine persönliche Bedeutung
haben. Ich
Weitere Kostenlose Bücher