Schädelrose
Schlacht teilhaben. Dafür war er aus der Kirche ausgetreten,
die ihm gezeigt hatte, daß die Schlacht möglich war.
Damit hatte er sich der Arroganz schuldig gemacht.
Er wollte der Mentor, der Ratgeber dessen sein, was aus Joe
werden würde. Ein Jünger, ja – das auch, wenn die
Zeit kam. Aber zuerst der Mentor, derjenige, der mehr
wußte. Damit hatte er sich der Arroganz schuldig
gemacht.
Er wollte recht haben mit dem, was geschehen würde, aber
nicht mit der Sicherheit des Glaubens, der stets einen Sprung
über die Dunkelheit tun muß, sondern mit der
datengestützten Sicherheit der verstandesmäßigen
Wissenschaft. Aufgrund dieser Sehnsucht war er nicht bereit, die
zweite Lesart der Ereignisse, die Joe selbst vorgebracht hatte,
überhaupt in Erwägung ziehen. Es mußte mehr als
die Evolution, mehr als die Menschheit allein auf dem Spiel
stehen, damit die Schlacht groß genug – grandios
genug – für Patrick Martin Shahid war. Gab es eine
größere Arroganz als diese?
Ja. Er wollte Joe sein.
Shahid barg das Gesicht in den Händen. Eifersucht,
kleinlich genug, um seine Arroganz zu verletzen, Arroganz, tief
genug, um darin zu ertrinken. Wo blieben die Erinnerungen? Drei
Wochen lag seine Operation jetzt zurück, und er hatte sich
nichts entsonnen, an nichts erinnert. Dafür hatte er seine
Schwüre gebrochen, hatte mit Rom gebrochen… für
diesen Weg, der ihn nirgendwohin und zu nichts geführt
hatte. Zu nichts außer der Arroganz in ihm selbst,
außer der Nichtigkeit seines Wesens. Eine verdiente
Nichtigkeit, weil er sich auf seine überlegenen Gedanken
über die Zukunft der ganzen Welt verlassen hatte, auf seinen
Glauben, das Übergedächtnis würde ihn aufgrund
seines überlegenen Verstands, seiner überlegenen
visionären Kraft benutzen. Auf seine Arroganz. Man konnte
nicht von einer großen Macht benutzt werden, wenn man seine
eigene nicht abtrat.
Wo blieben die Erinnerungen?
Müde stand Shahid auf. Er konnte nicht beten. Seit der
Operation war er außerstande gewesen, zu beten. Das war das
Schlimmste.
Er ging zum Fenster zurück und machte es wieder
transparent. Siebzehn Stockwerke unter ihm wimmelte der Times
Square von Nachtschwärmern. Aus dieser Höhe
verschwammen ihre individuellen Besonderheiten. Der Platz
hätte in Karachi sein können, das bei der letzten
Revolution zerstört worden war, als er aus Pakistan geflohen
war. Er hätte in Brasilia, in Paris, in Tokio, in St. Louis
sein können…
Er stand auf einem Platz in St. Louis und hielt ein Paar
goldene, halbmondförmige Ohrringe in der Hand, starrte
Mallie Callahan an, diesen verdammten kleinen Idioten, der sie
doch tatsächlich in einer Straßenbahn einer Frau
gemopst hatte…
Shahid schnappte nach Luft. Er legte eine Hand ans Fenster.
Unten strömten die Menschen in farbigen Wellen dahin.
Er öffnete die Schlafzimmertür, ging auf
Zehenspitzen in die Dunkelheit und sah im Lichtrechteck vom Flur,
daß Janet mit Jimmy in den Armen eingeschlafen war. Der
Kleine mußte wieder diese verdammten Ohrenschmerzen gehabt
haben…
Auf dem Times Square verschwammen und wogten die Farbwellen
und warfen ihn nach vorn, gegen das Fenster.
Er hielt den Sterbenden auf dem Feldbett in der
Notunterkunft fest und flüsterte: »Schon gut, Paul,
ich bin froh, daß du’s mir gesagt hast, es ist mir
egal, wer du warst und was passiert ist, schon
gut …«
Unten beruhigten sich die Farben und lösten sich wieder
in einzelne Menschen auf. Einzelne Menschen, jeder mit einer
Vergangenheit, einem ewigen Leben. Menschen, nicht Gott.
Oder doch? Arroganz, Offenbarung…
Shahid stand taumelnd auf und starrte auf die Menschen hinab,
die über den Times Square eilten.
Und die Erinnerungen kamen.
[ii] Abk. für
Centers for Disease Control (Zentren für
Gesundheitsüberwachung), eine Einrichtung des
amerikanischen Public Health Service, die Daten über
Krankheiten aus allen amerikanischen Bundesstaaten sammelt
und auswertet. – Anm. d. Übers.
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