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Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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als ob sie ein kleines Boot vertäuen würden.
Wer hatte Antonia eingeladen? New Yorks heißeste
Regisseurin verbrachte doch den Samstagabend nicht damit, auf
schlechte Premieren zu gehen. Aber sie wußte bereits, wer
Antonia eingeladen hatte. Sie spürte einen Kloß im
Hals.
    Auf der Bühne deklamierte Hephaistos: »Gehn wir, da
seine Glieder nun umschlossen sind.« Er streckte den Arm
aus, warf sich in Pose und marschierte von der Bühne. Zwang
und Obmacht trabten lammfromm hinterdrein. Irgendwo hinter
Caroline kicherte jemand. Die Bühnenbeleuchtung wurde
dunkler, und ein zu auffälliger Scheinwerfer strahlte Robbie
an.
    Er hob den Kopf. Caroline wußte, daß
Prometheus’ erste Rede eine dieser heruntergeleierten
Naturbeschwörungen war, die Stücke über das
Landleben im New York des einundzwanzigsten Jahrhunderts so
absolut irrelevant machten:
     
    »O Himmelslicht und flügelschnelles Windewehn!
    Strömende Wasser und der Wogeflut des Meers
    Unzählig Lächeln und Allmutter Erde! Auch
    Die allessehende Sonnenscheibe ruf ich an.«
     
    Es klang nicht irrelevant. Prometheus sprach mit
täuschender Leichtigkeit, mit einer Gelassenheit, die von
splitterndem Schmerz unterlegt war. Die göttliche Luft und
Mutter Erde waren da, fest und ewig, aber er erwartete keinerlei
Trost von ihnen.
     
    »Schaut her: In was für Qualen ich
    Die zehentausendjährige Zeit
    Durchkämpfen muß!«
     
    Sarkasmus jetzt, mitleiderregende Worte, die sich sogar dem
Luxus des Selbstmitleids verweigerten. Und doch war auch die
verwirrende Leichtigkeit da, die etwas Entsetzliches und so tief
Verborgenes in Schach hielt, daß er sich dem nicht stellen
konnte… die zehentausendjährige Zeit
durchkämpfen… Nein, dachte Caroline, er
wußte nicht, was er da sagte, das war alles, er konnte es nicht wissen…
    Sie sah, wie Antonia Trego sich abrupt vorbeugte.
     
    »Indes was red ich? Weiß ich alles doch
voraus,
    Genau, was sein wird, und nicht unerwartet kann
    Ein Schmerz mich treffen.«
     
    Shahid hob die Hand und ließ sie wieder sinken. Robbies
Stimme, dachte Caroline betäubt, war heller als die ihres
Vaters, nicht so volltönend. Er brachte sie nicht so gut zum
Tragen. Aber sie war stark und klar, und es lag etwas in ihr, das
sie noch nie gehört hatte und zuerst nicht identifizieren
konnte. Dann wurde ihr bewußt, was es war: absolute
Überzeugung. Robbies Stimme fehlte diese leichte
Tonhöhenveränderung bei Worten, die nicht der Wahrheit
entsprachen, eine Veränderung, die sowohl von elektronischen
Wellenlängen-Scannern als auch von Aphasikern wahrgenommen
werden konnte, die jeden Sinn für die Bedeutung der Worte,
aber nicht für die Stimmfärbung verloren hatten. Jeder
Schauspieler, den Caroline je gehört hatte, ganz gleich, wie
gut er war, sprach zumindest einige Worte mit diesem leichten
Unterton von Lügen. Bis jetzt.
    Sie hörte angestrengt hin, sicher, daß sie sich
geirrt haben mußte, und zu desorientiert, um sich in
irgendeinem Punkt sicher zu sein.
     
    »Zu schweigen, nicht zu schweigen über dies
    Geschick, unmöglich ist mir beides…«
     
    Jeder Satz hatte eine doppelte Bedeutung. Das Motelzimmer in
Wyoming erstand vor ihr: zerfetzte Vorhänge, die umgeworfene
Kommode, der von Scherben übersäte Boden. Aber er
konnte bei dieser Vorstellung nie und nimmer an das Motelzimmer
denken – zu schweigen über dies Geschick,
unmöglich… –, er würde sich nie mehr
an dieses Zimmer erinnern. Das war der entscheidende Punkt bei
dem, was mit ihm geschehen war. Weiß ich alles doch
voraus genau, was sein wird… Caroline schüttelte
den Kopf. Die Zukunft war da, in seinen Worten; die Zukunft, die
Vergangenheit, die Gegenwart, gleich außerhalb des
Scheinwerferlichts, Erscheinungen von starker Präsenz, die
sie in jeder Faser seines angeketteten Körpers spüren
konnte. Wartend.
    Sie war nicht die einzige, und es waren nicht nur ihre
Erinnerungen an das Rock End Motel und das Krankenhaus in
Wyoming. Caroline schaute sich fast schon hektisch um. Das
übrige Publikum sah es ebenfalls. Sie saßen stumm und
hingerissen da und hingen an zweieinhalbtausend Jahre alten
Worten, am Schmerz einer Geschichte vom Anfang der mythologischen
Zeit, an Robbies Stimme, die sich hob und senkte. Niemand
rührte sich. Niemand – so schien es Caroline –
atmete. Sie schaute zur Bühne und lauschte und vergaß
das restliche Publikum.
    Der Auftritt des Chors zerstörte es. In Togas,

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