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Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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Aufmerksamkeit zu schenken.
    »Ich vergesse immer, wie sehr ich New York mag«,
sagte sie zu Shahid. »Wie geht es Ihnen,
Patrick?«
    Er lächelte. Straffe kleine Falten zerrten an seinen
Augen- und Mundwinkeln. »Ich brauche Sie bloß
anzuschauen, dann sehe ich, daß Sie New York
lieben.«
    Sie faßte sich an ihr Stirnband, das mit dem diamantenen
Gegenstück zu der Halskette verziert war.
»Zuviel?«
    »Nicht für diesen Anlaß.«
    »Das fand ich auch.« Sie versuchte wieder zu
lächeln, aber ihre Lippen fühlten sich steif an. Shahid
war dünner, und unter seiner glatten Ruhe lauerte etwas
Schroffes und Wütendes. Was immer es war, Caroline sah,
daß er mit ihr darüber reden, sie darin einbeziehen
würde, ob sie es hören wollte oder nicht. Aber erst
später. Erst nach dieser Vorstellung, nach
dieser…
    »Ist er bereit?« fragte sie abrupt.
    »Gestern war er’s.«
    Die Lichter im Foyer flackerten und blinkten. Sie stellten
sich vor dem Theaterplakat an, um sich ein Programm auswerfen zu
lassen. Es surrte leise, während es die gewünschte
Nummer ausdruckte. Caroline umklammerte es fest, und die Menge
schwemmte sie ins Theater. Cassidy war so dicht hinter ihr,
daß sie seinen Atem im Nacken spürte. Die Sitze
bestanden aus Plastik und Winschaum und ließen sich nicht
verstellen: sehr billig, sehr unbequem, genau richtig für
ein Theater, das die Annehmlichkeiten der Mittelschicht
verachtete. Caroline betastete die Armlehnen aus geformtem
Winschaum. Es gab immer noch keine gentechnisch erzeugte Mikrobe,
die Winschaum-Müll fressen wollte.
    Der Vorhang, ein magnetisches Feld, schimmerte und löste
sich auf. Eine elektronische Stimme intonierte feierlich:
»Zwei griechische Stücke. Erstens: Aischylos: Der
gefesselte Prometheus.« Die letzte Silbe wiederholte
sich mehrmals und verklang in blechernen, künstlichen Echos.
Das letzte Echo wurde von der Lautsprecheranlage versehentlich zu
einem ansteigenden Winseln verzerrt. »O Gott«, sagte
Caroline. »Amateure am Werk.«
    Shahid lächelte im Halbdunkel. »Sie wußten,
wie es sein würde.«
    Ja, das wußte sie. Es war ein New Yorker Zyklus, so
unvermeidlich wie die Gezeiten im Hafen: Wenn der Broadway auf
leichte Unterhaltung mit seichten Musicals setzte, brachte das
experimentelle Theater selbstquälerische Untersuchungen
über Selbstmord. Wenn der Broadway alte Stücke
wiederaufnahm, konterten die Experimentellen mit Avantgarde. In
diesem Jahr gab es auf dem Broadway drei spritzige
Techniksatiren, geistreiche, bissige Stücke über
Datenraub, geklonte Ehepartner und Chefs aus synthetischen
Proteinen, und zwei weitere kleine Häuser auf dieser
Straße hier spielten Tartuffe und Medea, wahrscheinlich beide in Produktionen, die so ernsthaft und
spießig waren, wie diese hier zu sein drohte. Sie
wußte es. Aber es traf sie trotzdem; sie hatte sich etwas
Besseres erhofft, seinetwegen.
    Vier Schauspieler kamen von links auf die Bühne, auf der
nur ein schwarzer Block mit Eisenringen daran stand. Hephaistos,
Zwang und Obmacht sahen aus, als ob sie schon ihre gesamte
Konzentration brauchten, um nicht dauernd über die
Rampenlichter hinauszublicken. Sie trugen steife Togas und
Stirnbänder. Zwang und Obmacht schleppten Robbie Brekke
zwischen sich herein. Er war in Lumpen gehüllt und hielt den
Kopf so tief gesenkt, daß Caroline sein Gesicht nicht sehen
konnte.
    Obmacht begann: »Erreicht ist nun der Erde
äußerstes Geländ, der Skythen Straße,
unbewohnte Wüstenei.« >Der Skythen Straße<
klang, als sei es gleich um die Ecke, vielleicht irgendwo in
Brooklyn. Hephaistos war auch nicht besser. Zwang war noch
schlechter. Caroline ließ Shahids Hand los und
verschränkte ihre Hände im Schoß. Ein komplettes
Stück in dieser Art, während die Hauptfigur die ganze
Zeit an einen Felsen gekettet war und sich nicht rührte
– es war unmöglich. Das Theater würde sich binnen
zwanzig Minuten leeren. Es war ein Fehler – eine Frau in
der Reihe vor ihr rutschte ungeduldig auf ihrem Stuhl herum.
    »Caroline«, flüsterte Shahid, »sind Sie
in Ordnung?« Sein Geflüster störte nicht; das
halbe Publikum raschelte und murmelte bereits.
    »In der Reihe vor uns – rechts von mir, die mit
dem knallroten Stirnband – das ist Antonia
Trego.«
    Shahid hatte eindeutig noch nie etwas von Antonia Trego
gehört. Caroline wandte sich achselzuckend wieder der
Bühne zu. Obmacht und Zwang ketteten Prometheus an den
Felsen,

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