Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
Vom Netzwerk:
merkte er, daß er
tatsächlich die Fäuste an den Seiten geballt hatte. Er
kam sich wie ein Blödmann vor und zwang sich, die Finger zu
lösen. Die letzten Worte des Jungen – sie waren das
letzte, was Robin zu ihm gesagt hatte, bevor sie mit ihrem
gaistischen Liebhaber in den Luftwagen gestiegen war, den langen,
teuren weißen Van mit der blaugrünen Rose als
Flachrelief auf der Fahrertür. Kämpf nicht dagegen
an.
    Es gab keine Möglichkeit, gegen den Gaismus zu
kämpfen, weil alles Gaismus war. Alle Geschehnisse
waren Teil der Biosphäre, wurden von anderen Geschehnissen
in der Biosphäre ausbalanciert, waren Bestandteil der
globalen Ökologie, die das Leben dreieinhalb Jahrmilliarden
lang erhalten hatte – und es deshalb immer tun würde.
Mit dem kuschelig-krausen Bild der Mutter konnte man nicht
diskutieren, weil man ein Produkt ihrer Lenden war, ein geliebter
Sohn. Selbst AIDS, die Geißel des letzten Jahrhunderts, die
die Politik dieses Jahrhunderts mehr als alles andere geformt
hatte, war ein Teil von Gaia. Bevölkerungskontrolle,
zeitlich ausbalanciert mit der Entdeckung des Heilmittels unter
den gleichen >natürlichen< Slow Viren, die die
Krankheit anfangs ausgelöst hatten. Gleichgewicht. Ein Ort
im Kosmos. Das Gefühl, ein Teil von etwas zu sein.
    Und dennoch war es die AIDS-Krankheit, die den Gaisten ihren
einzigen Feind schuf. Für die Haßerfüllten, die
immer noch Jagd auf Schwule machten, hörte es sich so an,
als ob die Gaisten irgendwie für AIDS waren. Tödliche
Viren waren ebenfalls Teil der Biosphäre. Alles verdiente
es, geliebt zu werden. Kämpf nicht dagegen an, Bruder.
    Das Schlimmste daran war, dachte Joe bitter, daß es
keinen Hebel gab, den man bei Gaisten ansetzen konnte, wie lang
er auch sein mochte. Nicht, wenn sie den ganzen Planeten
gepachtet hatten. Es war kein Platz mehr übrig, wo man noch
stehen konnte.
    Joe hatte damit gerechnet, daß Caroline und Prokop noch
zuhörten; er sah halbwegs erleichtert, daß es nicht so
war. Prokop hatte sich in ein Gespräch mit dem älteren,
grauhaarigen Gaisten vertieft, den Joe für den Leiter der
Gruppe hielt. Während Joe hinschaute, holte Prokop einen
Aufnahmecomputer heraus und begann, dem Mann Fragen zu stellen.
Die merkwürdige, überhitzte Intensität verzerrte
seine Züge.
    Caroline war ein paar Meter weitergegangen, um mit der einen
– kleinen Demonstrantin zu reden. Das kleine Mädchen,
das Joe auf sieben oder acht Jahre schätzte, stand mit dem
Rücken zu ihm. Kastanienbraune Haare fielen ihr wallend
über den Rücken herab. Ihre Füße steckten in
Winschaum-Sandalen, und an einer Ferse hatte sie ein
gänseblümchenförmiges Pflaster. Caroline kniete
sich hin, um auf gleicher Höhe mit dem Kind zu sein; ihr
Gesicht war so hungrig, daß Joe eine Sekunde lang
wegschaute. Er erinnerte sich, daß Caroline eine Tochter
hatte, die nur ein paar Jahre älter war als dieses
Mädchen, eine Tochter mit Memory Formation and Retrieval
Disorder.
    Das Kind gab Caroline eine Rose und sagte mit einer
süßen, hohen Stimme einen auswendig gelernten Text
auf, jedoch ohne jedes nervtötende Geleier:
»Wußten Sie, daß Rosen in smogverseuchten
Städten tatsächlich besser geblüht haben?
Das Schwefeldioxid hat die Pilze abgetötet, die den Rosen
weh taten. Das hier ist eine blaugrüne Rose, das Symbol
für unseren Planeten. Die ist für dich.«
    Caroline nahm die Blume. Joe sah ihr ins Gesicht, ergriff
ihren Arm und steuerte sie zur Straße, die Lady Alison und
Hasfried bereits überquert hatten. »Kommen Sie«,
sagte er rauher, als er beabsichtigt hatte. »Sie sind
hergekommen, um einen Einkaufsbummel zu machen. Also, gehen wir
einkaufen.«
    Hasfrieds Rücken verschwand gerade durch die mit einem
Infrarot-Scanner ausgestattete Tür des Porzellanladens. Als
Joe Caroline hineinzog, hatte er eine seiner
bruchstückhaften, seltenen OEFL-Erinnerungen:
    Die kaiserliche Manufaktur in Ching-te Chen. Der Geruch von
Kalk und Knochenasche; die Reihen von Männern, die im
Schneidersitz auf dem Boden saßen und jeweils ein anderes
Motiv auf die Porzellanwaren malten; die Hitze der
Brennöfen. Jeder Brennofen konnte hundertachtzigmal mit
Brennmaterial aus Kiefernholz gefüllt werden. Die Tür
des Brennofens wurde geöffnet, und das Porzellan und die
Gußformen waren zu einer festen Masse verschmolzen:
Irgendein Dummkopf hatte den Brennofen wieder einmal
überhitzt. Nun würde er für dessen

Weitere Kostenlose Bücher