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Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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Dummheit
bestraft werden. Zorn durchzuckte ihn. Er, Ts’ang
Ying-Hsuan, Direktor der kaiserlichen Manufaktur, würde
derjenige sein, der dafür verantwortlich gemacht wurde,
nicht der verfluchte unfähige Arbeiter…
    Die Intensität seines Zorns ließ ihn innehalten. Es
war die erste Erinnerung, die ihm jemals auch nur ansatzweise
real vorgekommen war. Zu seiner Linken sagte Caroline: »Sie
haben sich gerade an etwas erinnert.«
    Joe wandte sich zu ihr um und blickte sie an. Sie sah immer
noch blaß aus. Bevor er etwas erwidern konnte, sagte sie:
»Sie haben sich daran erinnert, daß Sie Chinese
waren.«
    »Woher wissen Sie das?«
    Sie lächelte eigenartig. »Jeder war mal ein
Chinese. Sehen Sie sich diese Vase an.«
    In dem Laden waren nur ein paar sorgfältig
ausgewählte Objekte zu sehen. Sie sahen teuer aus, aber Joe
wußte, daß es Stücke waren, die durchaus schon
einmal kaputtgehen konnten. Das wirklich wertvolle Porzellan
würde nur für Sammler hervorgeholt werden. Ein
Verkäufer musterte ihre Gruppe und eilte sofort zu Caroline
hinüber. Joe fragte sich, woher sie so etwas immer
wußten.
    »Ich möchte Yung-Cheng-Stücke sehen, die nicht
größer als so sind«, sagte Caroline und
wölbte ihre Hände um eine imaginäre Kugel von
fünfzehn Zentimetern Durchmesser. Das schien Joe eine
merkwürdige Art zu sein, nach Porzellan zu fragen, aber der
Mann nickte sofort und lächelte. Joes Blick fiel auf eine
hohe, häßliche graugrüne Vase, und wieder blitzte
die kaiserliche Manufaktur mit ihrem Kalkgeruch in seinem
Bewußtsein auf.
    Der Verkäufer oder Kustos, was immer er war, brachte
Caroline zwei kleine Untertassen mit weitgehend in Rosa
gehaltenen Zeichnungen von Zweigen und Vögeln darauf. Er
drehte sie um und zeigte ihr eine Periodenmarke, sechs Zeichen in
drei Zweierreihen.
    »Nein«, sagte Caroline.
    »Das ist die Yung-Cheng-Marke«, sagte der
Verkäufer gewandt. »Wenn Madame
wünschen…«
    »Die Zeichnung ist zu schematisch«, sagte
Caroline, »und die Famille-rose-Glasur hat diesen
Orangenschalen-Effekt, den man – sehen Sie? Ende des
neunzehnten Jahrhunderts sind Yung-Cheng-Imitationen en masse auf
den Markt geworfen worden.«
    Der Verkäufer sah sie mit neuem Respekt an. »Nur
einen Augenblick, Madame.« Er verschwand mit den
Untertassen.
    »Will er Sie reinlegen?« fragte Joe.
    Caroline lächelte. In ihren Augen war ein intensiver
Schimmer, der ihn unangenehm an Prokop erinnerte. »Nein, er
will mich testen. Die nächsten Stücke werden echtes
Yung Cheng sein. Sie… oh!«
    Ein anderer Mann kam mit zwei winzigen Schüsseln auf sie
zu. Joe wußte sofort, daß es der
Geschäftsführer des Ladens war. Die Schalen waren in
zartem Rosa glasiert und jeweils asymmetrisch mit einem einzelnen
blühenden Zweig bemalt, der von der Außenseite zur
Innenseite verlief. Caroline nahm eine davon in die gewölbte
Hand, und Joe erkannte an ihrer ganzen Haltung, daß sie
sich gerade an etwas erinnerte. Er wandte den Blick ab. Sie hatte
eben die Finger der anderen Hand gehoben, um damit über die
für kleine Häppchen gedachte Porzellanschale zu
streichen, als der Plastiksprengstoff gegen das Fenster
knallte.
    Das Fenster zersprang nicht. Ein plötzlicher klarer Ton
erklang, fast wie von einer Glocke. Grüner Kunststoff
zerplatzte netzförmig außen am Fenster. Einen
Sekundenbruchteil später heulten Alarmsirenen, Menschen
schrien, und weitere Explosionen erschütterten den Park
draußen.
    »Runter!« rief Joe. Er packte Caroline und zog sie
zu Boden. Noch mehr Sprengstoff; das Geschrei draußen
erreichte die Tonhöhe der Sirenen. Jemand rüttelte
brüllend am Türgriff, aber die Tür hatte sich beim
ersten Treffer ans Fenster selbsttätig verriegelt. Joe
änderte seine Position, um besser sehen zu können. Zwei
Gaistinnen zerrten von draußen an der Tür. Sie weinten
und klammerten sich aneinander; ihre Gesichter waren verzerrt,
die Münder weit aufgerissen, aber ihr Kreischen ging im
schrecklichen Ansturm des Lärms unter.
    Die langen, blutbefleckten Gewänder zwischen ihren Beinen
wurden beiseitegeschoben, und das Gesicht des kleinen
Mädchens preßte sich verzweifelt gegen die
Glastür.
    Caroline entwand sich mit einem Ruck Joes Griff und krabbelte
auf allen vieren zur Tür. Der Geschäftsführer
wandte den Kopf, sah sie und kreischte: »Nein – von
innen geht sie auf.« Er griff nach Carolines Beinen,
hielt jedoch weiterhin die beiden

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