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Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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Menschenbild längst ausgetragen zu haben. Er hatte sogar
geglaubt, ihn gewonnen zu haben. Er nahm so weit von Caroline
entfernt wie möglich auf der kreisrunden Lederbank Platz und
sah zu, wie die Stadt unter ihnen vorbeizog.
    Aus der Luft sah Rochester deprimierend aus. Vor zwanzig
Jahren hatte es in der Stadt viele AIDS-Unruhen gegeben –
nicht so viele wie in New York oder Denver und auch nicht
annähernd mit der Gewalt, die San Francisco fast
zerstört hatte. Doch die ersten Behandlungszentren mit ihren
kümmerlichen Bemühungen aus der Zeit vor dem Heilmittel
waren durch Sprengstoffanschläge von Viren >gereinigt<
worden; AIDS-Heime für die Todkranken hatten gebrannt;
Gegendemonstrationen der Liberalen und Hoffnungsvollen hatten
dazu geführt, daß auf beiden Seiten die Banner erhoben
wurden: TOD DEN SCHWULEN, DIE ES UNS GEBRACHT HABEN. VERBRENNT
DIE SCHWEINE. AIDS: AMERIKAS IRRWEG – DEKADENTER SEX. Und
auf der anderen Seite: MITLEID MIT DEN STERBENDEN. GERECHTIGKEIT
FÜR ALLE. STIMMT GEGEN SCHWULENFEINDLICHE GESETZE. Die
Mitfühlenden, so schien es, waren nie so gut in Slogans wie
die Haßerfüllten.
    »Ich war fünfzehn, als Rochester brannte«,
sagte Prokop zu Joe. Er rutschte unruhig auf dem Sitz des
Luftwagens herum. In seiner Stimme war ein merkwürdiger Ton,
den Joe nicht genau einordnen konnte. »Ich hatte
schreckliche Angst. Ich hatte noch nie mit einem Mädchen
geschlafen, und ich bin einfach rausgegangen und hab eine
bequatscht. Die ganze Zeit, während ich auf ihr lag, sah ich
die Gesichter der Randalierer im Fernsehen, die ihre
schwachsinnigen Sprüche über die Notwendigkeit von
dämlichen schwulenfeindlichen Gesetzen
krakeelten.«
    Joe war verärgert. »Die Gesetze als solche waren
nicht schwulenfeindlich. Die Absicht war, Wahlmöglichkeiten
zu beschränken, die für die Volksgesundheit
schädlich waren, aber nicht, innere Gefühle und
Bedürfnisse zu verurteilen.«
    »Oh, ich vergaß. Sie sind Anwalt. Sie spalten
Haare, um feine Unterscheidungen zu treffen.«
    »Der Unterschied ist wichtig.«
    »Nur für Anwälte«, sagte Prokop.
    »Alle Gesetze basieren auf der Beschränkung von
Freiheiten zum Wohl der größeren
Gemeinschaft.«
    »Kommt ganz auf Ihre Definition des >Wohls<
an.«
    »Natürlich.«
    »Wollen Sie damit sagen, daß Sie für die
Gesetze gegen Unzucht zwischen Männern sind?«
    »Ja«, sagte Joe und machte sich auf eine
Auseinandersetzung gefaßt. Aber Prokop warf ihm nur einen
Blick zu, den er mittlerweile gut kannte: die intolerante
Verachtung des Menschen, der Toleranz zu einem Abgott erhoben
hatte. Prokop schaute ostentativ aus dem Fenster auf Rochester,
das sich unter ihnen wegdrehte. Caroline beugte sich jedoch zur
Seite, über den unglücklichen Hasfried hinweg, der
immer noch von Lady Alison bearbeitet wurde.
    »Joe – finden Sie es wirklich richtig, daß
Schwule ihre Sexualität ihr ganzes Leben lang
unterdrücken sollen?«
    »Ich denke, sie müssen diese Entscheidung zum Wohl
des größeren Ganzen treffen, zumindest bis das Virus
ganz und gar ausgemerzt ist. Sie wissen so gut wie ich, daß
das Heilmittel genauso langsam wirkt wie das ursprüngliche
Virus und daß die wirtschaftliche und soziale Belastung
durch AIDS immer noch enorm groß ist. Es ist nur nicht mehr
so offensichtlich wie früher. Und nicht mehr so
tödlich.«
    »Aber ihnen das zu versagen, was sie sexuell wahrhaft
befriedigt, und zwar für ihr ganzes Leben?«
    »Gibt es da irgendeinen Unterschied zu anderen, deren
wahrhafte sexuelle Befriedigung sozial destruktiv wäre und
denen man sie für ihr ganzes Leben versagt? Sagen wir zum
Beispiel Pädophilen?«
    Caroline antwortete nicht. Joe spürte, daß sie
nicht wirklich an dem Thema interessiert war oder daß sie
ihn für eine Art Faschist hielt, weil er nicht an das
Paradies der unbeschränkten Wahlmöglichkeiten glaubte.
Prokop schaute weiterhin aus dem Fenster; der
Erinnerungszugriffsmoment huschte über sein Gesicht, und es
erschlaffte mit offenem Mund. Lady Alison redete durch die Nase
auf Hasfried ein, der stumm nickte. Sein Blick war der eines
gejagten Bassets. Joe kreuzte die Arme vor der Brust und
wünschte, er wäre im Institut geblieben.
    Der Luftwagen setzte auf einer Landeplattform auf, die von
einem Meer von Gaisten umgeben war.
    Drei Straßen bildeten ein grünes Dreieck, einen
kleinen Park mit Ringelblumen- und Zinnienbeeten. Die
Landeplattform ging über eine Seite des

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