Schädelrose
mehr. War
sie so kleinlich, daß sie sich freute, bloß weil er
es nicht tat? Immer noch? Nach all dieser Zeit? Was sagte das
über sie aus?
»Wiedersehen, Callie. Brekke.«
Die beiden Männer gaben sich nicht die Hand. Colin ging
hinaus. Caroline widerstand dem jähen, verrückten
Impuls, ihm nachzurufen: Sieh dich vor der verliebten Frau an der
Anmeldung unten vor! Früher wäre es ein Anlaß
für gedämpftes Gekicher, endlose Komplotte, mit
diebischem Vergnügen geschmuggelte Zettelchen gewesen.
Liebeskranke Empfangsdamen, Katastrophen hinter der Bühne,
absurde Fluchten in rasenden Taxis… Die Erinnerungen
überwältigten sie.
Robbie stand dicht bei ihr und hielt ihre beiden Hände
ganz fest. »Machen Sie nicht so ein Gesicht. Caroline,
machen Sie nicht so ein Gesicht.«
Sie verstand nicht, was er sagte. Die Worte standen in keiner
Verbindung zueinander. Robbie ließ eine ihrer Hände
los und machte die Kommode auf. Er holte das erste Stück
Porzellan heraus, das ihm unterkam, und legte ihre Finger einen
nach dem anderen drumherum.
Die Konfektschachtel war kühl und glatt. Sie stand auf
dem kleinen Hof, lauschte der Flöte und betrachtete die
langen, schrägen Sonnenstrahlen, die golden auf dem kleinen
Teich lagen. Tsemo dreht sich um und lächelte sie an. Im Hof
nebenan lachten ihre Kinder; ihre Stimmen klangen hell und
lieblich in der stillen Luft. Ihre Kinder…
»Caroline«, sagte Robbie.
Sie blickte erschrocken auf. Sie saß auf einem Stuhl. Es
war viel dunkler im Zimmer. Draußen vor dem Fenster reichte
der Schatten des Gebäudes schon halb bis zum See, und
dahinter lagen lange, schräge Sonnenstrahlen zwischen den
Bäumen.
»Caroline.«
Sie stand auf. Ihre Knie waren weich. »Wieviel Uhr ist
es?«
»Nach sechs.«
»Das kann nicht sein!«
»Sie haben über eine Stunde dort
gesessen.«
Caroline schüttelte den Kopf.
»Doch. Ich hab Sie beobachtet. Sie wollten nicht mit mir
reden.« Im Halbdunkel war seine Stimme sehr leise.
»Wo waren Sie?«
Sie schüttelte erneut den Kopf, diesmal, um ihn wieder
klar zu bekommen. Ich müßte Angst haben, dachte
sie. So etwas sollte nicht passieren. Doch statt dessen
fühlte sie sich ruhig und erfrischt. Die Flöte.
Der Hof.
Das Lachen der Kinder…
»Ich hole Pater Shahid«, erklärte Robbie.
»Nein«, stieß Caroline hervor. »Nein,
nicht, Robbie. Mir geht es gut.« Der letzte Rest von Linyi
verschwand aus ihrem Geist, aber Linyis innere Wärme blieb.
Die Flöte. Der Hof. Die Kinder. Auf einmal fühlte
Caroline sich wundervoll: glücklich und sorglos. Sie lachte.
»Wirklich! Es geht mir gut. Und ich hab einen
Bärenhunger. Gehen wir uns was zu essen besorgen!«
»Caroline – was ist da gerade mit Ihnen
geschehen?«
»Nichts. Alles. Besorgen wir uns was Großes ohne
Nährstoffe drin, was so richtig dick macht!«
Robbie kam einen Schritt näher, aus dem Halbdunkel
heraus. Sie wurde sich bewußt, daß sie sein Gesicht
noch nie so gesehen hatte: still, besorgt. Er legte ihr die linke
Hand auf die Schulter. »Was ist passiert? Sie haben
ausgesehen, als ob Sie… ganz woanders gewesen wären.
In einer Vergangenheit?«
»Ja«, sagte sie vergnügt. Aus einen Impuls
heraus stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küßte
ihn auf die Nase. Er wich einen Schritt zurück.
»Wird mir das auch passieren?«
Caroline lachte erneut. Seine Egozentrik war so offen und
unschuldig wie bei einem Kind.
»Wenn Sie Glück haben, vielleicht.«
»Dazu ist die Vergangenheit nicht da. Daß man sich
in ihr verliert.«
»Und wozu ist sie da, Robbie? Wer weiß das?
Sie?« Die Sache machte ihr plötzlich Spaß:
Angriff und Abwehr, Herausforderung und Reaktion. Das hätte
sie mit Colin machen sollen, statt sich auf seine dramatische und
unaufrichtige Kann-ich-helfen-Tour einzulassen.
»Ja«, sagte Robbie ein wenig ärgerlich.
»Ich weiß, wozu die Vergangenheit da ist.«
»Ach ja? Und wozu?«
»Um von ihr zu profitieren. Wie alles andere.«
»Nun – ja.« Das brachte ihn aus dem
Gleichgewicht. Sie konnte seine fragende Miene in den Schatten,
die den Raum erfüllten, eben noch erkennen. Er trat einen
Schritt vor, so daß er nah genug war, um mit seinem Atem
die Haare neben ihrer linken Wange in Bewegung zu versetzen.
»Es kommt natürlich drauf an, auf was für eine
Art von Profit man aus ist, nicht wahr?«
Die fragende Miene vertiefte sich. Dann verschwand sie mit
einemmal. Caroline sah exakt den Moment, in
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