Schädelrose
sein würde, seine Reaktion zu
kontrollieren, aber dann merkte sie, daß der Kuß nur
überschwenglicher Begeisterung entstammte, einer jähen
hysterischen Erleichterung, die nichts mit ihr zu tun hatte. Was
ihr tatsächlich das merkwürdige Gefühl gab,
überhaupt nicht da zu sein.
»Laß mich los!«
Er tat es, dann beugte er sich vor und küßte sie
noch einmal. Caroline machte sich von ihm frei.
»Was soll das, zum Teufel? Wo bist du?«
»In Wyoming«, sagte er und lachte erneut.
»Und was machst du da?« fragte sie schroff.
»Reich werden!« Seine Augen leuchteten; er war
plötzlich ein wahres Energiebündel. Er nahm seine Jacke
vom Stuhl, steckte ihre Ohrringe in die Tasche und griff nach dem
Türknopf. Sie schob sich zwischen ihn und die Tür.
»Robbie, was ist es? Was war in Wyoming? Woran hast du
dich erinnert?«
»Ich komm irgendwann zurück und erzähl’s
dir.«
»Zurück? Du kannst noch nicht aus dem Institut weg,
du hast noch nicht mal richtig mit dem kleinen Training
angefangen, das du…«
»Klar kann ich. Ich kann alles. Hab ich dir das nicht
die ganze Zeit erklärt?« Er grinste auf sie herunter.
Triumph sprühte wie Funken von ihm weg. »Wir sehen uns
nächste Woche.«
»Nächste Woche? Aber du kannst nicht…«
Sie sah, daß er konnte und würde. »Paß auf
dich auf!«
»Und zieh dir deinen Pullover an, wenn’s kalt ist,
und putz dir die Zähne. Wiedersehn, Caroline.« Er hob
sie hoch, stellte sie beiseite und machte die Tür
schwungvoll hinter sich zu. Caroline dachte irritiert, daß
er noch nie so töricht und jung ausgesehen hatte. Und das
war ein Mann, mit dem sie beinahe ins Bett gegangen wäre?
Woran hatte er sich bloß erinnert?
Sie bückte sich, um den wieder geöffneten Safe
aufzuheben. Aber statt sich wieder aufzurichten, sank sie auf den
Teppich nieder und holte Catherines Brief heraus.
Er war auf liniertem Papier geschrieben, mit einem
Radiergummifleck rechts oben in der Ecke und einer winzigen
Träne ein Drittel des Weges zur Ecke links oben. Die Schrift
– sorgfältige Blockbuchstaben – war die einer
Siebenjährigen. Aber Catherine war neun gewesen, und die
Buchstaben waren zu sorgfältig: eckige Kanten, präzise
Senkrechten. Wie lange mochte sie gebraucht haben, um jedes
Stück jedes Buchstabens zu malen, es kritisch zu mustern,
das nächste Stück zu malen, es zu mustern, zu malen?
Immer weiter, aus einem Gedächtnis heraus, das sich an Teile
erinnerte, aber nicht mehr an etwas Ganzes, einem
Gedächtnis, das nahezu unfähig war, etwas Neues
aufzunehmen.
LIEBE MUTI,
WIE GEHT ES DIR? MIR GEHT ES GUT. ICH HATTE KUCHEN ZUM
ESSEN. MISS HARLOW HAT MIR EINEN ROTEN SCHAL GESTRICKT.
ALLES LIEBE,
CATHY
Caroline hatte diesen Brief ein paar Monate, nachdem sie in
das Heim in Albany gekommen war, geschrieben. Caroline hatte
gewartet, voller unbegründeter Hoffnung. Sie hatte schon
damals gewußt, daß sie unbegründet war. Das
hatte ihr die Hoffnung jedoch nicht nehmen können. Die
Genspleißer hatten ein Heilmittel für AIDS gefunden,
vielleicht würde es auch ein Heilmittel für MFRD geben.
Die Zahl der Kinder, die krank wurden, war sehr gering;
vielleicht würde sich die Krankheit ausbrennen, solange sie
noch ganz jung waren. Das Gehirn war immer noch ein weitgehend
unbegreifliches Organ; vielleicht würde etwas in Catherines
Gehirn reißen, heilen und mit der Zeit die Fähigkeit
wiedererlangen, auf etwas Neues zu reagieren. Dann waren die
ersten Briefe gekommen, anfangs so etwa einer pro Woche:
LIEBE MUTI,
WIE GEHT ES DIR? MIR GEHT ES GUT. ICH HATTE KUCHEN ZUM
ESSEN. MISS HARLOW HAT MIR EINEN ROTEN SCHAL GESTRICKT.
ALLES LIEBE,
CATHY
Nach rund einem Monat begannen die Briefe alle paar Tage und
dann täglich zu kommen, als sich Catherines Gehirn neuen
Stimuli verschloß und in den festen Kreislauf eintrat, in
dem es für den Rest ihres Lebens verharren würde.
Caroline hatte jeden Brief in einer Wohnung voller Umzugskartons
und bitterer leerer Flächen von der Scheidung von Charles
geöffnet, hatte an jedem Umschlag gezerrt, als die Tage zu
Wochen wurden, und nach einem gesucht, in dem Catherine in den
Park gegangen oder mit ihrer Puppe gespielt oder etwas anderes
gegessen hatte…
LIEBE MUTI,
WIE GEHT ES DIR? MIR GEHT ES GUT. ICH HATTE KUCHEN ZUM
ESSEN. MISS HARLOW HAT MIR EINEN ROTEN SCHAL GESTRICKT.
ALLES LIEBE,
CATHY
… einen, in dem sie eine Erkältung oder
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